sieben-sieben-sieben-eins-vier-vier

- Fragen Sie Herrn Dr. von Keilers! -



Die Wanduhr verweist auf die neunte Abendstunde. Zwischen den Häusern der sich talwärts ausbreitenden Stadt fließt der bläuliche Dunst eines Spätsommerabends, am Horizont zieht sich der orange rote Saum zusammen, Lichtpunkte verschwimmen in der Ferne. Der Donnerstag verabschiedet sich gemächlich.


Langsam erhebe ich mich aus meinem Sessel, gehe zur Stereoanlage und mit einer kurzen Drehung des Einschaltknopfes ertönt ein Knacken, gefolgt von einem kurzen Rauschen und dem Pausenzeichen. Untrüglicher Beleg dafür, dass ich den richtigen Sender eingestellt habe. Wieder Stille, der nervöse Zeiger der Uhr zerhackt die Zeit im Sekundentakt. Ein Schlag auf den Gong, kaum ausgeschwungen, da beginnt der Nachrichtensprecher mit dem Verlesen der Neuigkeiten vom Tage. Seine Stimme ist akzentuiert, Nebensätze werden gegliedert, indirekte Rede zitiert Politikerworte bestehend aus Metaphern, die längst Denkmalschutz genießen, abgegriffene Vergleiche auf einem guten Weg zu hervorragend aufgestellten Mülltonnen, welche eine alt papieren zerbröselnde Rhetorik klaglos entsorgen. Irgendwo in der weiten Welt ein Selbstmordattentat, nicht mehr als ein ministerieller Fingerzeig auf die eigene Bedrohung durch den Terrorismus. Der Bundesverband für kleinformatige Druckerzeugnisse fordert die Einführung einer Waffenbesitzkarte bei Erwerb und Verwendung von Küchenmessern, daneben ein wenig Sport, die neue deutsche Athletenhoffnung gab unter Tränen zu, sich mit Eigenurin gedopt zu haben - „...und nun zum Wetter.“ Letzte Stauwarnungen beschließen die ersten sieben Minuten meiner großen Stunde. Heute ist es sogar eine Jubiläumssendung.


Ich sehe mich wieder im Studio sitzen, vor mir der dreibeinige Tisch mit abgerundeten Ecken und der umlaufenden Messingleiste. Darauf steht das Sennheiser-Mikrofon MD 21 und daneben griffbereit der Telefonapparat. Die Erkennungsmelodie wird abgespielt. Peter Reichelt hatte sie damals komponiert und mit seinem Jazz-Quintett nicht nur im Radio damit das Publikum begeistert. Sie verebbt und eine angenehme weiche Altstimme verkündet: „Wir begrüßen Sie heute zu der 800. Ausgabe unserer beliebten Ratgebersendung 'Fragen Sie Herrn Doktor von Keilers!' Unsere Telefongespräche wurden am vergangenen Dienstag aufgezeichnet und ausgewählt. Wenn auch Sie ein Problem haben, das Sie gern mit unserem Herrn Doktor besprechen wollen, so rufen Sie uns an. Jeden Dienstag zwischen 19 und 21 Uhr steht Ihnen unser Lebensberater unter der Rufnummer: 01805-77 71 44 zur Verfügung. Die Stimme schleicht sich aus, der Aufnahmeleiter hinter der Glaswand reckt für mich deutlich sichtbar seinen Daumen hoch, leckt ihn an um die Sportzeitung aufzuschlagen. Tontechniker Horst F. bedient den Schieberegler für das Studiomikrofon.


Auch heute Abend steht neben dem Sessel ein Telefonapparat auf dem Wohnzimmertisch. Mein Blick schweift zum Kalender, vor sechzehn Jahren lief unsere erste Sendung. Entstanden war die Idee an einem fröhlichen Sommerabend in den Weinstuben am Nikolassee. Müller-Thurgau und der erdige Riesling aus dem Rheingau beflügelten uns eine ernsthafte Konkurrenz zu den Kummerkastentanten in den Illustrierten ins Leben zu rufen.

zum Mithören:




Sender Langenberg (Höhe ca. 300 m) auf dem

Hordtberg (245 m ü. NN) bei Velbert




Es läutet, der erste Anruf, deutlich hört man wie der Hörer von der Gabel genommen wird, ich melde mich: „ sieben-sieben-sieben-eins-vier-vier, Doktor Wolfgang von Keilers, guten Abend.“


Wie so oft ist es eine Frau, die Rat sucht. Aufgeregt erwidert sie meinen Gruß und stockt plötzlich. Heftiges Atmen ist zu hören, sie ringt nach Worten. „Ich freue mich Sie zu hören, wollen Sie Ihren Namen nennen?“ versuche ich einen Dialog zu beginnen. „ Mein Name ist Leukart, Carolin, ich bin Mitte Vierzig und trage mich seit langem mit dem Problem herum...“ Ohne weitere Umschweife breitet sie vor mir ihr Anliegen aus. Der Zettelkasten des Lebens wird entleert. Unverdaute Erlebnisse, Ursachen ohne Wirkung, Folgerungen trotz fehlender Voraussetzung. Sie werden gelegentlich von mir mit einem „hmm“, oder „jaah“, kommentiert. Ich schaue auf die Uhr. Eine Minute ist bereits vergangen. „Einhaken“, schießt es mir durch den Kopf. Endlich, das Stichwort: „mein Freund.“ Weich aber bestimmt unterbreche ich den mittlerweile in sanften Wellen vor sich hin schwingenden Monolog: „ Haben Sie mit Ihrem Partner über Ihr Problem gesprochen?“ Sie gerät ins Stocken, ich schaue zu dem Glaskasten. Der Aufnahmeleiter blättert in der Sportzeitung, während der Tontechniker mir mit einer Cassette winkt. Ich lächele, er hat also doch die Archivaufnahmen von Albert Mangelsdorff vom Jazz-Festival in Zoppot für mich überspielt. Die Frau windet sich, zuversichtlich antworte ich: „Wenn Sie sich bisher noch nicht getraut haben mit Ihrem Partner darüber zu sprechen, dann haben Sie aber dennoch viel Mut bewiesen, als Sie sich mir anvertrauten.“


Positive Verstärkung“, es war das große Thema meines Seminarvortrages an der Universität: „Seelisches Therapeutikum, oder therapeutischer Ansatz durch operantes Konditionieren.“ Mein Doktorvater würde mir heute dafür im Geist auf die Schulter klopfen. Ich schiebe den Notizzettel beiseite, denn die Lösung erscheint greifbar. Die Anruferin lebt in Nordthüringen, so greife ich nach der Mappe mit dem Aufdruck Thüringen – Sachsen Anhalt. Die Frau benötigt eine Atempause, welche ich zur Frage nutze: „Welche Stadt, oder größere Ort ist in Ihrer Nähe?“ Der Aufnahmeleiter tippt ungeduldig auf seine Armbanduhr. Fast vier Minuten sind vergangen. Hoffentlich antwortet Sie nicht: „Holzengel, oder Kannawurf“, dann würde weitere kostbare Zeit verstreichen mit der Nachfrage nach Landkreis oder Postleitzahl. Erleichtert vernehme ich: „Stotternheim bei Erfurt“. Fast ein wenig freudig erregt entgegne ich: „ Dann wenden Sie sich doch einfach an die Selbsthilfegruppe 'Jeremia-aktiv' in Erfurt. Die Rufnummer ist: 'null-drei-sechs-eins-zweiundvierzig-dreißig-einhundertzwölf'. Dort wird Ihnen sicher geholfen.“ Sie wirkt sehr bewegt, und das mit fast erstickter Stimme gesprochene „Danke“ wird von den Trompeten und dem Klangteppich der Streicher verschluckt. „Something stupid“ mit dem Rundfunktanzorchester.


Vor drei Jahren verschlechterte sich meine Stimmbanderkrankung immer deutlicher, die Ärzte sprachen von einer chronischen Kehlkopfentzündung und es musste ein Nachfolger für meine Sendung gefunden werden. Der Designierte war zwar kein Psychologe, dafür aber ein Jagdgenosse des Intendanten, doch wurde die Rechnung ohne die Zuhörer gemacht. Eine Flut von Protestbriefen gingen bei der Hörerredaktion ein. So bat mich der Intendant in sein Büro, das ich zu diesem Anlass zum ersten Male kennen lernte. Er beschwor mich eine Lösung zu finden, wie die Sendung in meinem Sinne fortgeführt werden könne, schließlich sei ich doch den Umgang mit aussichtslosen Fällen gewohnt. Mit rauer aber zuversichtlicher Stimme antwortete ich: „Es sei doch schon sehr viel gewonnen, wenn ein Intendant das Problem so klar erkannt habe; das sei dann doch schon der erste Schritt zur Lösung.“ Er drückte mir herzlich die Hand und ich muss zugeben, dass ich mich freute.


Zusammen mit Aufnahmeleiter und Tontechniker suchten wir nach einem beständigen Ausweg. Wir fanden heraus, dass jedem Beratungsgespräch eine ähnliche Struktur innewohnt. Ein Praktikant von der Fachhochschule Salzmünde brachte uns auf die entscheidende Idee. Gemeinsam mit dem dortigen Lehrstuhl für angewandte Informatik wurde die Gesprächsstruktur entschlüsselt. Das Ergebnis konnte mit einem Verschiebebahnhof, der sich aus einem Gleisstrang entwickelt und nach vielen Verzweigungen wieder in einem Gleis endet, verglichen werden. Sämtliche Fragen und Antworten von mir, die fein säuberlich auf Magnetband festgehalten worden waren, wurden digitalisiert. Im Endergebnis bekamen wir eine innovative Sparmaßnahme, die mir den Frühruhestand und der Sportzeitung den Papierkorb bescherte.


Wendet sich heute ein Anrufer an mich, so wandert der Mauszeiger über das Bildschirmmenu des Computers, den der Aufnahmeleiter bedient und mit einem Mausclick wird der passende Gesprächsstrang verfolgt. In Bruchteilen einer Sekunde ertönt meine frische und ausgeruhte Stimme über den Äther. Bei komplizierteren Fragen können blitzschnell „hmms, äähs“ und „ jaahs“ eingestreut werden. In schwierigen Fällen hilft auch die akustische Datei: „Ich möchte Ihr Problem gern vollständig begreifen. Könnten Sie mir es noch einmal mit anderen Worten schildern?“ Zum Abschluss des Gespräches stehen Wünsche für Kraft, Gratulationen zu soviel Mut, Daumendrücken und für bekennende Christen Gottes Segenswünsche zur Auswahl. Der Tontechniker kann sich viel mehr freier Zeit erfreuen, da passende Musikstücke zu den meisten Gesprächswendungen ebenfalls gespeichert sind.


Die Sendung ist zu Ende gegangen. Befriedigt lehne ich mich im Sessel zurück. Heute war ich wieder wirklich gut. Man spürte die Authenzität. Es erfüllt mich schon mit etwas Stolz, dass unsere Sendung im internen Ranking der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten den ersten Platz im Kosten-Nutzen Vergleich erzielte.


Die Sprecherin vom Dienst kündigt die nachfolgende Musiksendung an: „Auf den Spuren der Rostbratwurst – Thüringen wie es klingt und singt! Heute sind wir auf dem Spitzkohlmarkt in Kindelbrück.“ In diesem Moment klingelt das Telefon. Am Hörer ist der Intendant. „Mein lieber Doktor“, ölt er in die Sprechmuschel, „ich gratuliere Ihnen zu Ihrem 800. Erfolg. Es ist eine völlig unerwartete Resonanz aufgetreten. Die Medienagentur „Johnson-Proper-Sunlight und Partner“, welche Spitzenpolitiker medial betreuen, haben mit mir Kontakt aufgenommen. Dort interessiert man sich für das Format. Wir sollen bundesweit die Lizenzen für die Software samt Datenbank auch an die anderen Rundfunksender verkaufen. Das wird der absolute Knaller. Jeder Politiker von Rang wird jetzt zu Ihren Fragen und Antworten Klartext reden müssen. Der Titel der Sendung steht auch schon fest: 'Vor dem heißen Mikro.' Wir haben ein Stück Mediengeschichte geschrieben.“


Flüsternd frage ich: „Muss ich dann wieder selbst sprechen?“ Der Intendant lacht schallend: „Wo denken Sie hin! Sie haben doch schon längst alles gesagt.“

Senderöhre für Mittel- und Kurzwellensender von Philips
Typ TB 3/2000  Ausgangsleitung ca. 4000 Watt



Exponat im "omroep zender museum"
im Atombombenschutzraum des Senders "Ijsselstein"
bei Utrecht (Niederlande)



















Gerbrandy-Turm, höchster Sendemast der Niederlande (Höhe 382 m)
im Vordergrund das Einspeisehäuschen für den inzwischen abgebrochenen Mittelwellensender, welcher bedient und im Kriegsfall
mit einem Radioprogramm aus dem Bunker den noch
lebenden Rest der niederländischen Bevölkerung versorgen sollte






  zurück zur homepage