Bernd – der kleine Grenzgänger

 

 

Jede Autobiografie beginnt mit den Eltern. Das ist ein guter Brauch, selbst wenn die Eltern oft kein besonderes Aushängeschild darstellen. Aus diesem Grunde verweisen die Blaublütigen von altem Adel gern auf die Vorfahren, die vor Jahrhunderten ihr Unwesen trieben als Einsatzgruppen gegen aufmüpfige Bauern und oft ähnlich wüteten wie die spätere SS in Polen und Russland. Was so lange zurückliegt, ist historisch und steht unter Denkmalschutz. Ebenso ergeht es den Eltern von angesehenen Künstlern, die entweder den Spross zur Rebellion oder zur Inspiration anregten. Ein Literat mit einer Näherin als Mutter kann höchstens in typisch linken Medien reüssieren, von denen das gesittete Bürgertum, außerhalb ihrer Steuererklärung, gebührend Distanz hält. Wer jetzt die Stirn runzelt, dem sei versichert: es gibt keinen Grund an der Sittenstrenge der bürgerlichen Gesellschaft zu zweifeln, es sei denn bei der Steuererklärung. Dort wird Strafrecht in Gewohnheitsrecht umgemünzt. Doch bleiben wir bei der Näherin.

 

Meine Mutter wurde im Jahre 1918, nach dem Abschieben von Kaiser Willi, dem Allerletzten, über die belgisch-niederländische Grenze nach Doorn bei Utrecht, in einem Steglitzer Krankenhaus geboren. Obwohl schon zu dieser Zeit Steglitz fest verbunden mit Berlin war, gehörte dieser Flecken zum Kreis Teltow. Selbst meine Großmutter die in der Belziger Straße in Schöneberg das Licht der Welt erblickte gehörte noch nicht zu Berlin, was sich aber bei ihrer Einschulung änderte. Bei meiner Mutter lief der Prozess, dank des Oberbürgermeisters Adolf Wermuth schneller ab und am 1.10. 1920 gehörte Steglitz zur Stadt Groß-Berlin.  So grenzten nun auch Berlin und Potsdam aneinander, nur getrennt durch die Glienicker Brücke und die ehemalige Kreisstadt Teltow war ebenfalls durch die Brücke über den Teltowkanal mit Berlin verbunden. Beide Brücken spielten in der Geschichte nach dem Weltkrieg Nummer Zwei eine historische Rolle. Die Glienicker Brücke überragt aber die Kleinere an Geschichtsträchtigkeit. Doch schon damals zeichnete sich Berlin als eine Stadt mit sich umgebenen Provinzstädten aus. Ein krasser Gegensatz zur Region der Mark Brandenburg, die hauptsächlich unter dem Begriff „Märkische Streusandbüchse des heiligen römischen Reiches deutscher Nation“ in die Annalen einging. Meine Mutter juckte das nicht besonders. Im Nähen entwickelte sie viel Geschick, absolvierte eine ungeliebte Lehrer zur Putzmacherin und half später oft bei den Großtanten in der Schneiderei aus.

 

Als ich dann in einem Wäschekorb aus einer Kleinwohnung  in das große Mietshaus unweit der Johanneskirche getragen wurde, wuchs ich in der obersten Etage dieses Hauses auf. Es waren große Räume mit einem langen Flur verbunden. Das Erkerzimmer bekrönte eine welsche Haube aus Zinkblech, die leider etwas undicht war und hässliche Flecke in der Decke verursachte. „Es regnet wieder durch“, hieß es. Eine Schüssel wurde im Zimmer aufgestellt. Daraus lernte ich, dass sich Erwachsene über das Durchregnen ärgern. Eine meiner ersten Bildungserfahrungen, doch das ein anderes Mal.

 

Eine Etage tiefer auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenhauses hatten meine Großtanten ihren Schneidereibetrieb. Meine Tante Hildegard war Meisterin und beschäftigte in zwei großen Räumen bis zu neun Näherinnen und Zuschneiderinnen, die Jüngste von ihnen mochte ich zu gern. Sie war noch in der Ausbildung und immer sehr fröhlich. Später erfuhr ich, dass die Eltern alte Genossen und Widerständler in der Nazizeit waren und sie zur Jugendweihe ging.  Meine Tanten achteten bei der Auswahl der Mitarbeiterinnen auf demokratische Überzeugung und sozialer Notlage. Denn man darf nicht vergessen, dass der Ortsteil Lichterfelde ein Hort des preußischen Militarismus und Nationalsozialismus war.  Die Hauptkadettenanstalt ist nur etwa fünfzehn Gehminuten von unserem Haus entfernt.

 

Diese ehemalige Wohnung besserer Leute war nun zur Familienheimstatt einschließlich meiner Urgroßmutter und zum Konfektionsbetrieb umgestaltet worden. An der Wohnungstür prangte ein zartgelbes Schild mit dem Namen von Tante Hildegard und darunter die Aufschrift „Damenoberbekleidung  - Mittelgenre -“.  Eine Etage tiefer residierten zwei ältere Damen. Mir gefiel das lang andauerndes Klavierspiel, welches ich  im Erkerzimmer meiner Tanten verfolgen konnte. Die Ältere der Damen  war die Pianistin und Klavierlehrerin Ilse Steinkopf, die mir später über neun Jahre lang versuchte Rhythmus und Takt beizubringen, während meine Fingerfertigkeit sich an Schubert Impromptus abarbeiten konnte. Das große Esszimmer mit dem ausklappbaren Tisch für 12 Gäste  benutzte oft meine andere Tante als Buchhaltungsbüro für die Riesenjournale und Lohntüten. Sie hatte die kaufmännische Leitung des Betriebs übernommen und der Esszimmertisch diente regelmäßig als Schreibtisch oder Ort zum Ausrollen der großen Stoffballen. Immerhin gab es zwei nicht zu überhörende Betriebe in einem einst herrschaftlichen Haus von 1905. Elf Parteien wohnten dort, von den Untermietern ganz zu schweigen. Neben dem Klavierspiel unwilliger Kinder mischte sich aus den Arbeitszimmern das Rattern der Nähmaschinen, das hohe Surren der Zuschneidemaschine und im langen Flur vor einem großen seitlich beleuchtetem Spiegel fanden die Anproben statt. Der Begriff Mittelgenre ist ausgestorben. Er bezeichnete die Produktion „modelliger Kleider“. Nach dem Krieg konnten nur sehr Wohlhabende sich ein Modellkleid leisten. Mit dem beginnenden Wirtschaftswunder  wuchs aber der Bedarf  an preiswerten Kleidern, die dennoch nicht von der Stange kamen. Modellige Kleider entwarf zum Beispiel meine Tante und Konfektionsfirmen rund um den Kurfürstendamm übernahmen den Verkauf in Berlin und Westdeutschland, sie akquirierten andererseits Entwürfe und gaben diese als Fertigungsaufträge an die Betrieb, die ähnlich meiner Tante arbeiteten. Die größten Stückzahlen, die mir in der Erinnerung haften blieben, waren etwa einhundert Kleider einer Façon. Später erzählte man sich schmunzelnd, dass bei einer Bestellung rund dreißig gleiche Kleider, wenn auch in verschiedenen Farben, nach Fulda geliefert wurden.  Man kann sich den Skandal in dieser Bischofsstadt vorstellen, wenn die besseren Damen zum Neujahrsempfang in uniformen Gewändern sich begegneten.

 

Wann genau Bernd in mein Leben trat – das ist mir unbekannt. Ich kann mich wohl noch an meine Taufe in der düsteren Johanneskirche erinnern, an die laute Orgel aus der „Verfallzeit“ mit Schreipfeife 8fuß, aber an meine erste Bekanntschaft mit dem nur knapp ein Jahr jüngeren Knaben verblasst jede Erinnerung. Er war einfach da und ich war glücklich. Zu Bernd gehörte seine Mutter, die von mir „Tante Irmgard“ genannt wurde. Eine hochgewachsene Frau, die bei meinen Tanten beschäftigt war. In dieser Zeit kam Bernd zu uns und meine Mutter kümmerte sich um uns und nahm uns überall hin mit. Er gehörte zur Familie.  Wenn wir nicht spielten, erzählten wir uns Geschichten und dabei geschah das Ungeheuerliche. Natürlich regte dies die Verdauung an und da wir beide frühmorgens aus dem Bett mussten, Bernd in Babelsberg bei Potsdam und ich im heruntergekommenen Lichterfelde, war der Zeitpunkt nahe, wo meine Mutter zwei Nachttöpfe nebeneinander aufstellte, damit wir uns daraufsetzen konnten. Das war äußerst praktisch, denn wir brauchten unser Spiel oder das Anschauen von Bilderbüchern nicht zu unterbrechen. Wir saßen schön dicht beieinander und zeigten uns gegenseitig Bilder, die wir interessant fanden, oder dachten uns Geschichten dazu aus. So eine Sitzung dauerte natürlich etwas länger, aber keiner von uns einschließlich meiner Mutter und Tante Irmgard waren sich bewusst, dass wir dadurch zur Rottenbildung und zu Neonazis wurden.

 

Kerstin Deckert schreibt am 11.5.1999 in der gewichtigen Berliner Zeitung „der Tagesspiegel“ über neueste Erkenntnisse der Kriminologie Hannöverscher Prägung:

 

„Die Empörung der Ostdeutschen hat einen Namen: Christian Pfeiffer, Kriminologe aus Hannover. Pfeiffer fand heraus, warum ostdeutsche Jugendliche öfter Ausländer überfallen als die im Westen. Denn Pfeiffer sah Fotos von DDR-Kinderkrippen. In düsterer konformistischer Verschwörung saßen die Kleinsten nebeneinander auf dem Topf. Alle gleichzeitig. Ein folgenreiches Szenario, findet Pfeiffer. Undenkbar im Westen. Denn würde sich ein freies, individualistisches Kleinkind eines freien, individualistischen Landes je mit anderen freien, individualistischen Kleinkindern zur selben Zeit, im selben Raum ...? Ja, man muss die Frage zuspitzen: Würde es sich überhaupt auf den Topf setzen? Aber Pfeiffer hat ja recht.War schon ziemlich autoritär ausgedacht, dieses DDR-Erziehungssystem...“

 

Für den aufrechten Lichterfelder muss sich das eigentlich wie Kulturbolschewismus ausnehmen. Principiis obsta. Goebbels hatte doch recht mit der Warnung vor dem Iwan. Doch eigenartigerweise sind weder ich noch Bernd Anhänger einer rechtsradikalen Gesinnung geworden, noch haben sich Westbürger darüber ausgelassen. Denn in dieser Zeit galt das „Töpfen“ als praktisch, wenn es für all gleichzeitig durchgeführt wurde in den Kindergärten. Da muss dem Herrn Pfeiffer wohl der wilde Rudolf Steiner durchgegangen sein.

 

Tante Irmgard war eine von über vierzigtausend Grenzgängern, die auch nach der im Westen 1949 erfolgten Währungsunion im Westberliner Teil arbeiteten. Mein Onkel, der etwas glücklose VW-Chauffeur, war in seiner Eigenschaft als Elektroingenieur tätig für das gemeinsame elektrische Energieversorgungsnetz von Groß-Berlin. Er blieb es auch noch einige Zeit nach dem 13. August 1961, die dadurch abgeteilte Ost-Bewag hätte ihn gern behalten, aber durch den ungünstigen Kurs der Mark der DDR zog er es vor bei der West-Bewag anzufangen. Auch an diesem Beispiel zeigt sich wie eng verwoben Berlin mit dem Umland und trotz vier Sektoren immer noch ein Organismus war.

 

Bernd und ich haben nichts davon gemerkt, wenn wir mit der S-Bahn zwischen Lichtenberg und Lichterfelde hin und herfuhren, wenn wir mit Muttern in Amtsstuben der Volkspolizei Stempel und Bescheinigungen empfingen, weil eine alte Tante übersiedeln wollte. Die Spalter – das waren die Anderen, die wir gar nicht bemerkten. Dennoch gab es ein feines System von gesellschaftlichen Schichtungen. Das machte sich in der Bezahlung der Grenzgänger bemerkbar.

 

Tante Irmgard gehörte zu der Gruppe, die ihr Gehalt zu einem bestimmten Prozentsatz in DM erhielten. Dies zahlte die Lohnausgleichskasse, die nach der vorgepreschten westlichen Währungsunion eingerichtet wurde. Ohne diese Kasse, wäre die Volkswirtschaft in Berlin zusammen gebrochen. Meine Tante überwies das Gehalt über diese Lohnausgleichskasse und somit galt Tante Irmgard als ordentliche Arbeitnehmerin, selbst wenn es in der DDR nicht so gern gesehen wurde. Ihr Mann errichtete mit seinem Kollektiv in Sonderschichten einzelne Wohnblöcke, wo später die Familie auch eine Neubauwohnung kriegen würde.

 

Nicht fern von unserem Wohnhaus, in der stillen Friedrichstraße, steht ein mehrstöckiges weißes Gebäude mit einer geradezu anthroposophischen Eckenabschrägung. Gegenüber befindet sich in einer wüsten Kaiser-Willi Burgverkitschung, das „Rother – Stift“, wo gebrechliche alte Damen in den finsteren Gemächern ihr Lebensende abwarten. So muss sich Theodor Fontane im „Stechlin“ das Kloster Wutz vorgestellt haben, wo die Schwester des Dubslav von Stechlin ein Damenstift führte. In diesem weiß gekalkten Haus befand sich eine Rechtsanwaltskanzlei. Dort führte die Mutter von Hermann Kant  dem Advokaten den Haushalt. Kant berichtet im „Abspann“ darüber und über das nahegelegene Kino „der Spiegel“, wo er sich Wildwestfilme anschaute, zu Vorzugspreisen für Ostberliner und Ostzonenbesucher. Doch die Anzahl der „schwarz“ arbeitenden DDR-Bürger war nicht zu schätzen. Zu schätzen wussten es allerdings die unzähligen Westberliner Haushalte, die so billig zu Putzfrauen, Rentnern für die Gartenarbeit und anderen Billiglöhnern kamen. Wegen der Illegalität konnten die Löhne in das Bodenlose gedrückt werden, denn bei Umtausch gab es den vierfachen Wert in Mark der DDR. Oder die angebetete D-Mark konnte im Westen für Waren ausgegeben werden, die es in der DDR nicht mehr gab. Besonders bizarr wurde es, wenn der DDR-Malocher in einem Kaufhaus ein Produkt der volkseigenen Betriebe erwarb, welches wegen des Warenverkehrs Ost-West in das Sortiment eines Westberliner Geschäftes geriet.   Doch im großen Stil funktionierte dieser Ringtausch erst mit der Wende des Jahres 1989, wo der teure DDR-Fernseher „Staßfurt“ zu Schleuderpreisen bei Elektronikdiscountern im Westen herumstand.  

 

Zu gern wollte ich den Bern in Babelsberg besuchen, aber man redete es mir aus. Wegen der Spätfolgen meines Unfalles musste ich für längere Zeit in das Krankenhaus. Als ich wieder zu Hause, hieß es der Bernd kommt nicht mehr. Als ich älter wurde erfuhr ich den Grund. Der Vater von Bernd baute ja mit seinem Kollektiv sich selbst die neuen Wohnungen. Die Parteiorgane wollten das Grenzgängertum abschaffen. Zum Einen fehlten zunehmend mehr Arbeitskräfte und die geteilte Währung in ihrer Ungleichheit machte der DDR-Ökonomie zu schaffen. Auch war der rege Handel mit Ost- und Westwaren der sozialistischen Gesellschaft nicht zuträglich – jedenfalls aus streng marxistisch-leninistischer Sicht. Das zählte. Ich bedauerte diese ideologische Veränderung, obwohl ich sie nicht verstand. Mein Onkel brachte mir immer so herrliche Geschenke zum Geburtstag und Weihnachten aus Ostberlin mit. Das große Holzstativ, die Exakta Varex IIa meines Bruders kamen aus der DDR. Der Vater von Bernd wurde jedoch vor die Wahl gestellt sich für die Neubauwohnung zu entscheiden, oder seine Frau weiter in Westberlin arbeiten zu lassen. Er entschied sich für das Dach über dem Kopf, auf welchem keine Taube saß. Immer, wenn ich mit dem Schnellzug durch Babelsberg nach Braunschweig an Häuserreihen entlang fuhr, die in jener Zeit gebaut worden waren, fragte ich mich wie es Bernd so ergehen mag und wo er vielleicht wohnen könnte. Ein Besuch in Babelsberg war für mich erst vierzehn Jahre später möglich. Mit einem Bus von Wannsee fuhr man zur Autobahn-Abfahrt Drewitz. Nach der Kontrolle stieg man in den Ikarus des VEB Kraftverkehr um und landete in Potsdam. Denn für Westberliner war seit 1952 das Betreten der DDR mit Ausnahme von Ostberlin ohne Genehmigung streng verboten. Ostberlin blieb selbst über zehn Jahre für Westberliner verschlossen mit Ausnahme zweier Passierscheinwochenende um 1963.

 

Westberlin degenerierte nach 1961 zu einer lebensunfähigen Stadt in einem Subventionsdschungel. Die Modefirmen verzogen nach Düsseldorf, die Industrieunternehmen und Handelshäuser verlegten ihre Zentralen nach Westdeutschland und die Betriebe schrumpften so weit, wie es die Förderrichtlinien zuließen um die Gelder aus der BRD abzugreifen, Spediteure umkreisten das Europacenter ohne anzuhalten um wieder in die BRD zurück zu kehren, weil es für diesen Rundkurs ebenfalls Fördergelder gab. Westberlin unter der antikommunistischen Käseglocke begann zu schimmeln und zu zerlaufen.

Die Wende ließ erst einmal die saturierten Westberliner ein wenig DDR-Gefühl spüren, als die Geschäfte leer gekauft wurden und man sich an „sozialistische Wartegemeinschaften“, so hießen in der DDR die Schlangen vor den Läden, gewöhnen musste. So mancher brave „Mottenpost“ - Leser schaute im Handwerkskoffer nach, ob da noch zufällig eine Maurerkelle zu finden sei.

Doch Tante Irmgard ließ es sich nicht nehmen sogleich nach der Wende meine Tanten an dem alten Arbeitsort aufzusuchen. Ich habe mich gefreut sie wieder zu sehen. Das Treffen mit Bernd steht noch aus – man kennt das ja - wegen der Arbeit halt.

 

© Stephan Ebers, Gendringen, April 2020                                          Anhören                                                                                                  zurück zur homepage