Alfredo
- oder der Umzug






Die Dampfwolken über der Kokerei zeichneten sich schneeweiß gegenüber dem dunkelgrauen Himmel ab. Während unserer Besprechung verwandelte sich der Herbstwind in einen veritablen Sturm und wirbelte uns den Hüttenstaub entgegen. Nach vorn gebeugt kämpfte ich mich mit unserem Verkaufsleiter Richtung Parkplatz; zu unserem Überdruss setzte noch ein kräftiger Regen ein. Als wir langsam zum Werkstor rollten, sorgfältig darauf bedacht nicht mit einem Zug zusammenzustoßen, brach mein Kollege das Schweigen: „Ich mag heute weder über die Pfannenwirtschaft im Blasstahlwerk sprechen, noch einen Fuß vor die Tür setzen, obwohl Sie mir vorher von diesem idyllisch gelegenen Hotel erzählt haben und die Reize der Umgebung eindringlich schilderten.“ Ich musste lachen. Dieses Landhotel am Waldrand und am Ausläufer eines Karstgebietes gelegen, glich eher einem Naturreservat inmitten intensiv genutzter landwirtschaftlicher Flächen. Weniger für ausgedehnte Wanderungen in der Waldeinsamkeit geeignet, doch um so berühmter für Wildspezialitäten und guten Wein. Beides wussten wir sehr zu schätzen. Mich auf die Schnellstraße einordnend entgegnete ich: „Dann schlage ich vor, dass wir auf die Jagd nach frischem Wild verzichten und direkt uns an den gedeckten Tisch setzen. Reiche Beute haben wir ja heute anscheinend schon gemacht, wenn der Einkauf uns nicht zu sehr herunterhandelt.“ Doch der Angesprochene ist mit seinen Gedanken längst woanders. „Was es hier für Orte gibt“, fährt er fort, „ Nordharingen – nie gehört.“ Ich kläre ihn darüber auf, dass ich dort einige Jahre gewohnt hatte und deshalb ein genaue Ortskenntnis besitze. Trotz langsam hereinbrechender Dunkelheit zeige ich ihm einige markante Punkte, in der Ferne sind die Betriebsgebäude der Piesel AG zu erahnen, wo ich zuvor gearbeitet hatte. Er schaut sich um: „Also, wenn ich hier hätte arbeiten müssen, dann wäre ich trübsinnig geworden, da ist es ja noch in Hattingen anheimelnder.“ Nach wenigen Minuten erreichen wir das Hotel und verabreden uns zum gemeinsamen Abendessen.


Einige Stunden später ist der Tisch abgeräumt worden. Es hat uns sehr gut geschmeckt, der Rotwein sorgt für wohlige Wärme und mein Kollege greift das Thema: dörfliches Leben in dieser Gegend wieder auf. Der Sturm hat an Stärke zugenommen und es sind noch drei versprengte Wanderer hinzu gekommen, die hier übernachten wollen. Ich gerate in Erzähllaune und beginne mit meinen Erlebnissen.

Es war im Jahre des Herrn 1984, als ich mit wenigem Mobiliar, das eine Freundin von mir nicht mehr brauchte, in die Bahnhofstraße 19 einzog. Die Möbel waren noch gut, obwohl die Freundin einen großen Teil bereits von ihrem Amtsvorgänger, Pastor Schlunger, geerbt hatte. So kränkte es mich leicht, als ein 10jähriges Mädchen während des Beladens des gemieteten Kleinlasters zu seiner Mutter rief: „Mutti, guck mal! Sperrmüll!“ Diese spontane Äußerung war dazu angetan meine Freunde, die gerade einen Couchtisch aufluden, selbigen wieder abzustellen um ungehindert ihren Bauch vor Lachen festzuhalten, ob der munteren Göre. Endlich konnte ich sie bewegen sich zu beeilen, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in meinem neuen Zuhause in Nordharingen ankämen. Seit Wochen war dort das Blütenfest Hauptgesprächsthema. Der Anlass ist stets derselbe – die Rübenblüte. Es dauert von Sonnabend bis Sonntag. Am Sonntagabend findet gewöhnlich der Abschlusskommers statt. Da ich aber keine Lust zu solchen Festivitäten verspüre, vor allen Dingen, wenn als kultureller Höhepunkt ein Männerballett angekündigt wird, beschloss ich an diesem Freitagabend gegen 19.00 Uhr die Deckenleuchte für die Wohnküche anzubringen. Als ich das zweite Dübelloch mit der Schlagbohrmaschine gebohrt hatte, läutete es an der Wohnungstür. Brummig stieg ich von der Leiter und öffnete. Vor der Tür stand die Frau Schiffner, welche unter mir wohnte. Bei dem Einzug hatte ich das Pärchen, samt Kind gesehen. Sie mochte wohl fünf Jahre jünger als ich sein. Bevor ich noch „Guten Abend“ wünschen konnte, fragte sie mich: „Bohren Sie noch lange? Denn das Kind muss zu Bett!“ „Nein“, ich bin gerade fertig geworden. In der Wohnküche war die Deckenleuchte zu montieren.“ Sie blieb freundlich, trat in den Flur und entgegnete: „Es ist ja nur wegen der Kinder.“ Dann schob sie sich an mir vorbei, warf einen Blick in die Räume und antwortete: „Das ist ja interessant, wie Sie sich eingerichtet haben. Kommen Sie mit zum Kommers?“ Ich bedauerte, leider hätte ich kein Geld mehr und in Nordharingen gäbe es ja noch keinen Geldautomaten. Sie strahlt mich an:„Geld haben wir sowieso nicht, aber ich kenne so viele Bekannte im Festzelt. Die geben Einem immer etwas aus.“

Während ich mich noch mit Frau Schiffner unterhielt, kletterte die Stimmung in dem Gasthof „Zur goldenen Rübenhacke“ auf den Gipfel des Frohsinns. An einem Tisch saßen gemeinsam der Kohlenhändler Niels Wilhelmsen, Alfred Bontik, den man auch Alfredo nennt und Peter Schrillke, der Sohn der berühmt-berüchtigten „Schwungrad-Emma“, die wegen ihrer Gangart sich diesen Kosenamen verdiente. Peter Schrillke lernte ich, samt Familie, bei meinem Einzug in die Bahnhofstraße kennen. Argwöhnisch betrachtete er, wie wir zu dritt die Möbel in das Haus schleppten. Als dann noch seine Frau aus dem Haus trat, nebst einem Kleinkind, noch zwei plärrende Kinder im Vorschulalter am Rockzipfel – da war ich doch zufrieden, dass diese Familie im Nachbarhaus beheimatet war. Jener Schrillke also war es, der im Gasthof noch einen Stuhl an den besagten Tisch stellte, um den sich anschleichenden Mitarbeiter der Piesel AG, namens Helmut Fechmann, zu zurufen: „Komm, setz Dich zu uns! Niels Wilhelmsen hat gerade eine Runde für uns bestellt.“ Helmut Fechmann lässt sich das nicht zweimal sagen. Er pflanzt sich wie ein im freien Fall begriffener Blumentopf aus dem 5. Stockwerk auf den Sitz und blickt bierselig in die Runde. Da naht die Bedienung. Es ist die „rote Anni“. So wird sie wegen des rotblonden Haares genannt. In Wirklichkeit heißt sie Anneliese Tachyfetz und sie vergisst niemals darauf hinzuweisen, dass sie ja eigentlich ungarisch-österreichischer Abstammung ist. Ganz in der Nähe von Braunau wäre sie aufgewachsen.

Helmut Fechmann kriegt einen roten Kopf, als er Annis tief ausgeschnittenes Dekolleté erblickt. „Noch ein Bier“, ruft er aufgeregt. Sie nickt und geht hüftwackelnd zum Tresen. „Donnerwetter“, bekennt Alfredo, „die ist aber rassig! Dabei ist sie doch schon Ende vierzig.“ Dagegen ist Niels Wilhelmsen sauer. Er kennt seinen Helmut. Dazu braucht es keinen Hellseher, um die heran nahende Situation vorauszusagen. Indessen fragt Alfred Bontik seinen Sitznachbarn: „Helmut, haste 'mal einen Zehn-Mark-Schein?“ Helmut Fechmann grinst breit: „Nee, nur zwei‚ Heiermänner‘.“ Alfred fragt verwundert: „Hä?“ Helmut, ganz Herr der Lage, doziert:„Das ist eine Sprache unter Kennern, das habe ich nämlich von zwei Pennern! Mit denen trank ich neulich ein Bier in Bad Salzhausen, im Park gegenüber vom Schlaukauf. So werden nämlich die 5-DM-Stücke
bezeichnet.“ Helmut triumphiert. Endlich kann er einmal seine breite Allgemeinbildung unter Beweis stellen. Alfred winkt unwillig ab: Metall ist zu kalt. Das zieht nicht.“Dagegen läuft das Gesicht von Niels Wilhelmsen dunkelrot an: „Da haste wohl wieder für lau mitgesoffen, als du ein Sortiment Hosen aus dem‚ second-hand-shop‘erstanden hast.“ Helmut zweifelt: „Nein so heißt der Laden nicht, der heißt 'Kleiderkammer Bad Salzhausen'. Außerdem haben mich die Kumpels eingeladen.“ Niels brummt missmutig: „Na, da müssen Deine Saufkumpanen wohl von weit auswärts gewesen sein, weil sie Dich noch nicht kannten..“ Inzwischen naht Anni mit dem Bier. Sie stellt das Tablett auf dem Tisch ab und zückt den Kugelschreiber. Fast automatisch greift sie zu dem Bierdeckel von Niels Wilhelmsen, um die Biere abzustreichen. Doch Jener brüllt laut: „Helmut, mach‘ deine Geldbörse auf!“ Der gehorcht auch brav, denn er ist stolz darauf ein gut gefülltes Portemonnaie bei sich zu tragen. Befriedigt nimmt Niels den Inhalt zur Kenntnis: „Die nächste Runde zahlst Du!“

Alfred Bontik wirft ebenfalls einen neugierigen Blick in die Barschaft von Helmut Fechmann. Er stößt seinen Nachbarn sanft in die Rippen: „Leih‘ mir ‚mal den Zwanziger, wenn Du schon keinen Zehner hast. Kriegste auch gleich wieder. Ist gewissermaßen ein zinsloser Kredit.“ Helmut Fechmann schüttelt den Kopf. In Geldfragen ist er eigen. Schließlich hatte ihn der Kampf gegen die Gerichte, als er die elterliche Bauernkate in Masuren als westpreußisches Rittergut anerkennen lassen wollte, viel Überzeugungskraft und auch einiges Geld für die Rechtsanwälte gekostet. Das, ihm, als einfachen Arbeiter. Wozu also das Vermögen sinnlos verschleudern? Alfred Bontik zögert nicht lange. Während Helmut Fechmann noch von seinen Gedanken
gefangen genommen ist, schnappt sich Alfred die Geldbörse, entnimmt den Zwanziger und trompetet: „Wir machen jetzt das Trinkgeld-Spiel!“ Er beginnt, den Geldschein zusammen zu rollen. Halb versöhnt antwortet Helmut Fechmann: Aber‚ 'rausholen tue ich ihn.“ Alfred nickt.

Da naht Anna Tachyfetz mit einem vollen Tablett. Sie streift mit ihrem Körper leicht Alfred Bontik und sagt gewichtig: „Nächsten Monat fange ich bei der Piesel AG an, nämlich als Privatsekretärin!“ Helmut schaut der Kellnerin wie gebannt nach. „Also, wenn ich noch jünger wäre, ich weiß ja nicht.“ Alfred wittert die Gelegenheit: „ Na versuchen kannst Du es doch. Pass auf, wenn sie zurück kommt. Dann kriegste auch Deinen Zwanziger zurück.“

Anni, beschwingt durch zahlreiche Komplimente der anderen männlichen Gäste, deren Alkoholgehalt in der Atemluft die im Steinkohlenbergbau höchste Explosionszone mühelos erreichen würde, tänzelt sie zwischen den Tischen, genießt die Klapse auf ihr Hinterteil. Kaum, dass sie an Alfred Bontik vorbeikommt, steckt er ihr unversehens den zusammengerollten Zwanzig-DM- Schein zwischen die prallen Brüste. Sein Kommentar: „Hier Frau Privatsekretärin, das ist die Rückzahlung eines Kredites, den ich vom Helmut erhalten habe.“ Dabei greift er noch einmal richtig zu, denn er hat eine herzhafte Beziehung zu ihr. Wenn die Sozialhilfe ‚mal wieder vorn und hinten nicht reicht, dann versorgt sie ihn mit Resten aus dem Gasthof. Augenblicklich steht Helmut Fechmann auf und angelt mit beiden Händen nach der Banknote. Anni Tachyfetz kreischt, fast hätte sie die leeren Gläser fallengelassen. “Der hat ja eiskalte Hände!“ schreit sie. Niels Wilhelmsen grinst: „Kein Wunder, der kam ja gerade von draußen und ist besoffen in eine Pfütze gefallen. Es ist doch ein Hundewetter zu unserem Fest der ‚Rübenblüte“. Anni ist stocksauer. Sie stellt das Tablett ab und entschuldigt sich bei den anderen Gästen, die aufmerksam die Situation verfolgen. „Daher die lehmigen Pfoten. Ich gehe mich erst
einmal sauber machen.“ „Das ist nie verkehrt“, höhnt Niels Wilhelmsen. Helmut
Fechmann besitzt einen hochroten Kopf. Er schwenkt begeistert die wieder eroberte Geldnote. Triumphierend verkündet er:“ Ich halte eben mein Geld zusammen!“ Darauf gibt Niels Wilhelmsen schnell zurück: „Dann kannste ja die nächste Runde ausgeben. “Helmut antwortet darauf nichts. Genüsslich trinkt er sein Bier aus, steht dann schwerfällig auf und meint: „So, dann will ich man wieder los. War nett mit Euch. Der Abend hat sich auf alle Fälle gelohnt, aber morgen muss ich wie immer die Firma aufschließen.“ Peter Schrillke stutzt:“ Und was ist mit der Runde?“. Helmut Fechmann ist schon im Gehen begriffen: „Ich sage der Anni wegen der neuen Runde Bescheid.“

Wenig später kommt Anni Tachyfetz mit 3 Halblitergläsern Bier an den Tisch. Wütend schaut sie Alfred Bontik an: „Das nächste Mal gebe ich den Geldschein nicht mehr 'raus, Von dem Kerl lasse ich mich nicht befummeln. Schließlich arbeitet er in dem Rohstofflager der Piesel AG. Dafür, dass er mir den Tipp gegeben hat, mich als Führungshilfskraft zu bewerben, darf er noch lange nicht mit seinen tiefgekühlten Gichtgriffeln an mein warmes, feinfühliges Fleisch grabschen. Was soll denn der Herr Walkner denken, wenn ich erst für ihn als Sekretärin arbeite?“ Niels Wilhelmsen klappt der Unterkiefer herunter. Anni fährt ungerührt fort und fragt: „Wo kann ich nun endlich die Striche machen?“ Da fasst sich der Niels und stammelt: “Wie, Striche machen? Das ist doch die Runde vom Helmut. Der wollte doch nur schon gehen und hat für uns nur noch die Bestellung übernommen.“ Anni lächelt säuerlich: „Bestellt hat er,sogar eine komplette Runde. Aber er trank sein Bier schnell aus, weil er zeitig nach Hause musste. Also, wer bezahlt die nun?“ Anni ist sichtlich gereizt, denn es sitzen noch viele Gäste im Schankraum. Peter Schrillke wirft ihr seinen Bierdeckel zu. „Dieser Nassauer, immer das gleiche Übel mit ihm“, knurrt Niels Wilhelmsen. „Ich dachte, Ihr kennt ihn so gut, seid Freunde“, entgegnet Anni Tachyfetz schnippisch. Sie fährt fort: „Hast Du überhaupt soviel Geld, Peter?“

Der Angesprochene zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche, klaubt umständlich drei 5 Markstücke zusammen und wirft sie plötzlich mit der schmalen Seite blitzschnell in den Ausschnitt von Anni. Sie kreischt auf, ihre Geldbörse fällt zu Boden. Breitflächig wird das Kleingeld zerstreut. Fluchend kriecht sie auf dem Fußboden und sammelt die Münzen ein. „Beuge Dich doch noch etwas tiefer, - dann fallen Dir die Heiermänner vielleicht auch wieder heraus“, rät Alfred Bontik. Verbissen sammelt sie die Geldstücke wieder ein. Niels Wilhelmsen nimmt indess einen tiefen Schluck aus dem Bierglas. Alfred, dagegen, kneift Anni flugs in das breite Gesäß. Da streckt sie sich urplötzlich, wirbelt herum und schlägt ihm mit der flachen Hand in das Gesicht. Sie brüllt: „Ich bin eine feine Dame, habe in den ersten Restaurants von Worthlar bedient, wo Du Prolet nie herein gelassen worden wärest!“ Als Einziger bleibt Peter Schrillke völlig gelassen. Er sagt: „Zu Hause wartet meine Familie auf mich. Ich möchte endlich gehen.“ Es dauert noch einige Minuten, bis Anni Tachyfetz ihre Geldbörse aufgefüllt hat. Dann steht sie schweratmend vor dem zurückgebliebenen Trio und schnauft: „Wie gut, dass ich jetzt eine leitende Angestellte bei der Piesel AG werde! Dann trete ich Euch allesamt in den Arsch. Peter hebt das Glas und antwortet: „Frau Privatsekretärin, wenn Sie ja bald bei der Piesel AG arbeiten, da dachte ich mir, vielleicht haben wir dann hier nur noch einen Getränkeautomaten. Die haben ja so einen engen Schlitz zum Münzeinwurf. Da wollte ich schon ‚mal üben.“

Von diesem denkwürdigen Festkommers, incl. Geldspiel, erfuhr ich, als ich in der Kohlenhandlung Wilhelmsen meine Bestellung, wegen der günstigen Sommerpreise, aufgab. Voller innerer Entrüstung schilderte mir Niels Wilhelmsen das Verhalten von Helmut Fechmann. „Den müssen Sie doch kennen“, meinte er zu mir. Ich entgegnete, dass ich ihm schon im Rohstofflager begegnet wäre. Dort wäre er meist am schippen.

Als ich ihn gewahr wurde, war er genüsslich am pinkeln. Die Ablaufrinne war eine beliebte Möglichkeit, sich eines lästigen Wasserdruckes zu entledigen. Eine aufgetakelte Fregatte wurde von unserem Betriebsleiter Kalle Kabuffke durch das Lager geführt. Offensichtlich handelte es sich um die neue Schreibkraft, die den Buchhalter Josef Walkner entlasten sollte. In der Konzernzentrale hatten sich letztlich Beschwerden gehäuft, dass die Lohnzahlungen für die Niederlassung Nordharingen der „Piesel AG“ verspätet abgearbeitet wurden. Deshalb hatte man sich dazu durchgerungen, eine weitere Arbeitskraft einzustellen. Diese Schnalle würde also für unseren Jupp tätig werden. Na Klasse, dachte ich mir: „Gut, dass ich nicht in der Buchhaltung arbeite.“

Helmut drehte sich um und vergaß vor Erstaunen die Hose zu schließen. Deshalb schrie ihn der Betriebsleiter an: „Kannste dich nicht ‚mal anständig anziehen. Das ist eine Dame hier – und bei dir schaut noch der halbe Schniedel aus der Hose!“ Das war natürlich übertrieben, doch Helmut Fechmann knöpfte sich umständlich die Hose zu, bevor er der Fregatte die feuchte Hand reichte, mit den Worten: „War doch ein schöner Festabend in der ‚goldenen Rübenhacke‘, nicht wahr, Anni?“ Die Angesprochene antwortet würdevoll: „Für die Zukunft – nur mal so zum merken – ich heiße Frau Tachyfetz! Eigentlich sogar Frau Privatsekretärin – aber ich will ja nicht so sein. Für Menschen, die mir freundschaftlich verbunden sind, die dürfen mich auch ‘Frau Tachyfetz‘ nennen. Das bin ich meiner neuen Position schuldig. Wo kämen der Herr Buchhalter Walkner und ich sonst hin!“

Stand vorher dem Helmut Fechmann die Hose offen, so war es jetzt der Mund. Als ich ebenfalls der neuen Schreibkraft folgend die Treppe hinaufging, da hörte ich oben einen Schrei. Anni Tachyfetz war bei dem Gang über die Gitterroste mit einem Stöckelschuh in einer Masche stecken geblieben. Bei dem Versuch sie aus dieser Lage zu befreien, packte Kalle Kabuffke tatkräftig zu. Ich konnte gerade noch sehen , dass er wohl die Hüfte umfasst hatte und bei dem Herausziehen der feinen Dame  mit seinen Händen weiter nach oben gerutscht war. „Lümmel!“ hallte es durch das Gebäude. Damit beendete ich die Erzählung, der Niels Wilhelmsen aufmerksam gefolgt war. Er nickte: „Ja ja, der Helmut ist ein Schlawiner. Wieviel Zentner Briketts sollen es denn sein?“

Das Ehepaar Schiffner pflegte spätabends eine lebendige Konversation. Das Gebrüll war ohne weiteres in meiner Wohnküche zu verstehen. Mir gefiel die pädagogische Konzeption der Eltern, bereits Kleinkinder an einen bestimmten Lärmpegel zu gewöhnen. So würden sie in ihrem späteren Leben auch keine Probleme haben, einmal unter einer Autobahnbrücke zu nächtigen. Als mich eine Dienstreise nach Süditalien führte, geschah in meiner Abwesenheit folgendes:

Spätabends wird bei Frau Dörge, meiner Nachbarin, geklingelt. Als sie die Tür öffnet, steht Lydia Schiffner mit blutenden Handgelenken davor und verkündet bedeutungsschwanger: „Frau Dörge – ich habe soeben Selbstmord gemacht.“ Die Angesprochene wirft einen finsteren Blick auf die Suizidkandidatin. Eine deutliche Blutspur schlängelt sich die Treppe hinab und scheint vor der Wohnungstür der Schiffners zu enden. „Ausgerechnet heute“, denkt sich Frau Dörge, „wo ich mit der Hauswoche dran bin!“ Dennoch schluckt sie ihren Ärger hinunter und verständigt den Notarztwagen.

Als mir dieses Vorkommnis mit flammenden Worten geschildert wurde, sprach ich der Frau Nachbarin, zwischen Reisegepäck und Supermarkttüte, meine aufrichtige Anteilnahme aus. Nebenbei erfuhr ich, dass es in der besagten Wohnung der Schiffners seit einigen Tagen sehr ruhig sei.

In der Tat, die Etage unter mir schien nicht mehr bewohnt. Die Fenster waren gardinenlos, der Briefkasten quoll über vor Werbesendungen. Es war schon merkwürdig. Aber einige Wochen später sollte ich aufgeklärt werden.

Als Niels Wilhelmsen die Kohlen auslieferte, bog gleichzeitig ein Mann mit einem karierten Hütchen um die Ecke. Er wirkte geistig leicht abwesend. Niels Wilhelmsen warf mir einen vielsagenden Blick zu. „Das ist Siggi Schnobert, der war mal Dachdecker, doch dann ist er in Riedelahe vom Dach gefallen. Seiner Frau gefiel das ganz und gar nicht – weg war sie. Das Einzige, was bei ihm jetzt nicht mehr fällt, ist der Sprit-Pegel.“ „Aha“, beginne ich zu kalauern, „dann hat er wohl während des Fallens ‚Vom Himmel hoch, da komme ich her‘ gesungen.“ Niels Wilhelmsen schaut mich verdutzt an: „Nee, wieso? Kann der denn singen? Ich bin ja schon 25 Jahre im Männergesangsverein. Aber da hat er sich noch nicht blicken lassen.“

Der Kohlenhändler lehnte sich an das Fahrerhaus des LKW und beobachtete die Arbeit seiner Leute. Sein Gesicht zeigte einen zufriedenen Eindruck. Plötzlich straffen sich seine Gesichtsmuskeln. Sein Kopf schaut nach rechts, wo ein Mann mit einem Teppich unter dem Arm heran stapft. Der Mann besitzt dichtes schwarzes Haar. Eine Schmalzlocke hängt ihm in die Stirn. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Niels Wilhelmsen begrüßt ihn: „Hallo Alfredo, was machst Du denn hier?“ „Na, siehste doch, ich bin am Einziehen. Der Siggi hilft mir mit den Möbeln. Hier, den Perserteppich habe ich vom Sperrmüll. Einwandfreie Ware – da kenne ich mich nämlich mit aus. Siggi, fass ‚mal mit an!“ Siggi Schnobert schaut skeptisch auf den zusammen gerollten Teppich. „Sage ‚mal, der ist doch von Schrillkes. “Alfred Bontik klingt genervt: „Na und? Erst wollten sie mir ihn für fünfzig DM verkaufen, da habe ich gesagt: ‚ohne mich‘. Nun habe ich ihn im Sperrmüll wiedergefunden. Wenn das kein Schnäppchen ist!“ Siggi Schnobert ist aber nicht so leicht zu überzeugen: „Ja das Prunkstück haben die doch bloß entsorgt, nachdem sie sich diese Töle „Apollo“ zugelegt hatten. Der Köter hat nämlich nicht nur die Blagen gebissen, sondern auch ständig auf den Teppich gepinkelt.“ „Das ist die Natur“, gebe ich zu Bedenken. Niels Wilhelmsen pflichtet mir bei:„Vor allem vertreibt das die Kleidermotten.“Siggi Schnobert schaut mich ungläubig an, während Alfred Bontik die Stirn runzelt: „Als ich vor ein paar Tagen mit Peter einen gepflegten Umtrunk unternahm, weil mir diese Komfort-Sozial-Wohnung zugewiesen wurde, da habe ich keinen Hund bemerkt.“ Siggi Schnobert findet seine Fassung schnell wieder. Überlegen antwortet er: „Kannste ja auch nicht. Denn vor einer Woche hat die Töle das Stöckchen von den Bahngleisen holen wollen. Nur der Zug aus Worthlah war schneller.“

Egal“, antwortet Alfred, „das is 'n gutes Stück und wie Niels schon sagte, - es vertreibt die Motten.“ Die Zwei entschwinden im Treppenaufgang und schleppen den Teppich nach oben. „Sie sind ja wohl Junggeselle“, fährt Niels Wilhelmsen ungerührt fort, „wenn Sie eine Frau hätten, dann müssten Sie die wohl vor Alfred in Schutz nehmen.“ Da werde ich säuerlich. Schließlich bezahle ich nicht für einen Fahrer, der seine Leute bei dem Ausladen der Kohlen überwacht und gepflegte Konversation mit Teppichfachleuten betreibt. „Ich darf Ihnen versichern, dass ,meine weiblichen Bekannten keinen 'Elvis-Verschnitt' in Betracht ziehen.“ Niels Wilhelmsen schaut mich schief von der Seite an und brüllt seinen Leuten zu: „Beeilt Euch gefälligst!“ Wenige Minuten später knattert der Dieselmotor des LKW.

Dagegen blieb es unter meiner Wohnung nicht immer ruhig. Nachdem Schiffners wegen des Auszuges keine lautstarken Auseinandersetzungen mehr pflegen konnten, denn Frau Schiffner war nach erfolglosem Selbstmord mit dem Besitzer der „Kutscherstube“ aus Kriebenburg in Richtung Brasilien durchgebrannt, doch gelangten sie mangels ausreichender finanzieller Rücklagen nur bis Brüssel. Dort entschloss die Unternehmungslustige, doch lieber mit ihrem Mann in Kriebenburg wieder zusammen zu leben, bis sich vielleicht eine neue Möglichkeit zum Suizid oder einer erfolgreichen Flucht böte. Stattdessen übergab sich Alfred Bontik des abends pünktlich zwischen Neun und Zehn Uhr.. Fast konnte man die Uhr danach stellen, wenn er volltrunken seinen Mageninhalt in seiner Toilette entleerte.

Im September findet das Dorffest statt. Alle Vereine Nordharingens stellen einen Festwagen für den großen Umzug. Wochen vorher werden schon die Vorbereitungen getroffen. In diesem Sommer saßen Peter Schrillke, Alfred Bontik, Helmut Fechmann in der „goldenen Rübenhacke“, als Alfred Bontik meinte: „Wir sollten bei dem Umzug mitmachen.“ Helmut Fechmann fragte ungläubig: „Hä?“ Dann fügte er noch an: „Von mir aus, - wenn es nichts kostet.“ Alfredo lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Helmut, Du hast doch den schönen Bollerwagen.“

Daraufhin erläuterte Alfred Bontik seinen Schlachtplan: „Ihr kennt doch noch den ‚Brademann-Trick‘.“ „Was willste denn damit?, fragte Helmut Fechmann verwundert. Peter Schrillke ergänzte: „Die Olle ist doch schon seit 10 Jahren tot. Außerdem hatte die ihren Tante-Emma-Laden in Kriebenburg.“ „Ich denke, wir machen mit meinem Bollerwagen bei dem Dorffest mit, anstatt der Verblichenen einen Friedhofsbesuch abzustatten. Womöglich noch Blumen kaufen, oder so?“, zweifelt Helmut Fechmann. Alfredo, ganz Herr der Lage, die Helmut Fechmann nun wirklich bezahlen muss: „Also die Brademann hatte doch vor dem Laden diesen riesigen braunen Kasten. Da verstaute sie doch immer die Pfandflaschen. Wenn sie im Laden war, hat sie sich meist mit ihrem Alten im Hinterstübchen gezankt. So haben wir dann heimlich die Flaschen aus dem Kasten genommen, um sie dann wieder bei ihr gegen Bargeld einzulösen. Die Kuh hat sich bloß gewundert, dass ihr Kasten so furchtbar langsam voll wurde. Aber wir konnten dafür ins Wanderkino gehen. „Wander-was?“, ließ sich Peter Schrillke vernehmen. „Na Kriebenburg hatte doch kein Kino. Da kam immer so ein Typ mit Traktor und Anhänger, der dann einmal im Monat Kino im Dorfgemeinschaftshaus machte. Waren ja damals ganz andere Zeiten. Der Helmut hat ja dann immer vorher Spenden für das Heimatvertriebenenhilfswerk gesammelt. Manchmal sogar mit dunkler Sonnenbrille und drei schwarzen Punkten auf der gelben Armbinde.“ „Das weiß ich noch wie heute“, unterbrach Helmut Fechmann, “ich- habe doch auf drei Meilen gegen den Wind gesehen, wer sich mit einem Hosenknopf loskaufen wollte.“ Peter Schrillke rutschte fast die Brille von der Nase: „Und dann?“ „Na, wenn wir genug für die Kino-Karten zusammen hatten, dann sind wir da eben ‚rein gegangen. Der erste Film, den wir gesehen haben war: „das Schweigen“. Das war wirklich sehr verrucht.

Na, ich weiß nicht, so etwas habe ich zu Hause öfter. Was ist daran denn so aufregend?‘, fragte Peter Schrillke. Alfredo schüttelte den Kopf: „Na die haben doch in dem Film Schweinkram gemacht – na du weißt schon.“ „Nee, weiß ich nicht...“ Die Antwort wurde von der neuen Kellnerin unterbrochen mit der Frage: „Darf es noch etwas sein?“ Helmut Fechmann, unter den bohrenden Blicken seiner Zechgenossen, antwortete zähneknirschend: „Ja drei Pils, aber nur Kleine!“

Alfred kommentierte die Bestellung: „Das haste ‚mal wieder billig hingekriegt. Aber wenn mein Plan aufgeht, dann machen wir eine tolle Einweihungsparty in meiner neuen Wohnung.“ Dann begann er seinen Plan zu erklären:“Der Festwagen der‘Lutter-Brauerei‘ ist doch immer bei dem Umzug dabei. Die haben aber keine Zapfanlage auf dem Wagen, weil sie doch Pferde vorgespannt haben. Dafür aber jede Menge Pfandflaschen in Eistonnen. Dann geben sie eine Bierflasche, Bierdeckel und Öffner mit Firmenaufdruck ‚Lutter-Bräu‘ aus. Bei dem letzten Fest hat es doch deshalb soviel Ärger gegeben, weif die Bierflaschen in die Gärten geworfen wurden, oder auf der Straße liegen blieben.“ „Das stimmt“, ergänzte Helmut Fechmann eifrig, ich habe noch drei Flaschenöffner übrig – aber die Bierflaschen habe ich meinem Kollegen Kurt Keune mitgegeben, der doch immer für die Belegschaft zum Frühstück einen Kasten Bier heranschafft.“ „Helmut, Du hast das fast schon begriffen“, antwortete wohlwollend Alfred Bontik, „Du, Peter, malst ein Schild, wo drauf steht: ‚Bierflaschenentsorgung – für eine saubere Nordharinger Umwelt!‘ Du hast doch 'mal als Maler bei der Firma Schrapper gearbeitet.“ Peter, mit stolz geschwellter Brust: „Ich bin sozusagen eine Pinselfachkraft. Aber warum sammeln wir nun die Bierflaschen?“ „Mensch Peter, jetzt kommt doch der Brademann-Trick. Mit dem Sammelgut gehen wir zum Edeka- Laden und nachdem der Typ seinen bescheuerten Spruch : ‚Haben Sie alle Ihre Wünsche gefunden?‘, abgelassen hat, tauschen wir die Pfandflaschen gegen Bares ein. Es liegt an euch, wieviel wir sammeln. „ Peter Schrillke war begeistert: „Mein Ältester hat einen Stempelkasten. Damit bastele ich einen Stempel mit der Aufschrift: ‚Entsorgungsgutschein‘. Dann geben wir für jede Flasche einen Zettel mit dem Stempelaufdruck ab.“ „Du bist wirklich pfiffig“, lobte Alfred Bontik seinen Zechkumpanen.

Die weitere Unterhaltung entging dem Ohrenzeugen, weil die Gaststätte sich beständig füllte und der Lärmpegel anstieg und das Trio zu anderen Gesprächsthemen wechselte.




   Blick v. Lichtenberg auf das integrierte Stahlwerk Salzgitter
















































































Am 3. September, es war ein Sonnabend, schien eine warme Frühherbstsonne, als sich der Festzug vor der Kirche sammelte. In diesem traditionellen Gottesdienst,den der Männergesangsverein stets zusammen mit der Feuerwehrkapelle gestaltet, pflegt der gestrenge Gottesmann Pastor Feuereisen über das Wort aus dem alten Testament im 3. Buch Mose den „Bestimmungen über die körperliche Unreinheit“ zu predigen. Damit hofft er, dem zügellosen Treiben, welches nach reichlichem Alkoholgenuss um sich greift, Einhalt zu gebieten. Seiner Meinung nach sind besonders junge Männer der Versuchung durch unzüchtige Handlungen gefährdet. Darum wird sehr passend, nach dem Kanzelsegen von der Blaskapelle der beliebten Choral: „Ich bete an die Macht der Liebe“ angestimmt. Die dösenden Kirchenbesucher erwachten bei den ersten Takten, setzten sich aufrecht, was Pastor Feuereisen mit Genugtuung bemerkte. Hatte doch seine Predigt offenkundig die Menschen aufgerüttelt.

Dann marschierte der Festzug zu den Klängen der Amboss-Polka über die Hauptstrasse zum Kriegerdenkmal. Am Ende des Zuges sah man Helmut Fechmann den Bollerwagen ziehen, begleitet von Alfred Bontik und Peter Schrillke. Letzterer hatte ein großes Schild gemalt: „Bierflaschen-Endsorgung! Für ein sauberes Nordharingen – mit Gutschein!“ Alfred Bontik bemängelte zwar die Rechtschreibung, aber Helmut überzeugte ihn, dass es nicht Entsorgung heißen müsse, sondern Endsorgung, weil ja schließlich nach dem Austrinken der Bierflasche das Bier am Ende sei. Seit Abmarsch von der Kirche hatten sie bereits eine beträchtliche Anzahl an Pfandflaschen eingenommen. Nur Tischlermeister Studer wunderte sich, als ihm Helmut Fechmann die halbvolle Bierflasche aus der Hand nahm und ihm dafür einen grünen Zettel in die Hand drückte. „Was soll ich denn mit dem Gutschein?“ Helmut Fechmann tröstete ihn:“ Für irgend etwas wird er schon gut sein.“ Während er den Rest der Flasche austrank, rief er noch dem Handwerksmeister zu: „Man soll ja nichts umkommen lassen, nicht wahr?“

Dann nahte die Feierstunde am Kriegerdenkmal. Die feierliche Kranzniederlegung. Das war zwar eher etwas für einen erhebenden Volkstrauertag, aber so hatte der 1. Vorsitzende der Kyffhäuserkameradschaft, der zugleich auch stellvertretender Bürgermeister war, die Gelegenheit eine ausführliche Rede zu halten. Er sprach über Werden und Vergehen und der mit kostbarem Nordharinger Blut gedüngten Erde in Verdun und Stalingrad.

Ich muss ‚mal pinkeln“, lässt sich Helmut vernehmen. „Dann geh‘ doch zur Buchsbaumhecke“, entgegnet Alfred Bontik leicht verärgert. „Da stehen aber soviele Leute“, nörgelt Helmut. „Dann nimm‘ Dir eine Bierflasche. Wir stellen uns um dich herum. Dann merkt das Keiner“, schlägt Peter Schrillke vor. Gesagt – getan. Während die Blaskapelle das Lied: „Ich hatt‘ einen Kameraden...“ intoniert, stehen Helmuts Kameraden Spalier, um bei dem Füllen der Bierflasche keine unerlaubten Blicke zu zulassen. Dann hebt Helmut Fechmann die Flasche in die Höhe, lässt Sonnenlicht einfallen und meint stolz: „Randvoll, ist doch ‚ne Leistung. Ich habe eben eine gute Verdauung.“ Da durchzuckt Alfred ein Gedankenblitz: „Gib mir ‚mal die Flasche, ich habe noch einen gut erhaltenen Kronenkorken.“ Sorgfältig drückt Alfred Bontik mit einem Stein den Kronenkorken auf dem Flaschenhals fest. „Klasse, das sieht ja wie neu aus“, begutachtet Peter Schrillke das Werk.

Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. An der Straßeneinmündung zum Pommemsteig entdeckt Peter Schrillke einen alten Bekannten. „Schaut 'mal! Da ist ja Siggi Schnobert! Der hält wohl die Laterne fest, damit sie nicht umfällt.“ Siggi Schnobert sieht mit leicht glasigen Augen dem munteren Treiben zu. Als das Trio mit dem Bollerwagen an der besagten Straßenleuchte anlangt, reicht ihm Alfred Bontik die Bierflasche mit den Worten: „Hier ist für dich. Ist aber nicht mehr kalt. Du weißt ja; bei so einem Wetter.“Siggi nimmt dankbar das Gebräu entgegen und lallt: „Alfred, bist ein wahrer Kumpel.“


Jedoch Helmut Fechmann bleibt nörgelig: „Musste das denn sein? Das ist doch eine Pfandflasche.“ Daraufhin braust Alfred auf: „Was kann ich denn dafür, wenn Du eine Sextantenblase hast!“ Helmut zweifelt: „Sechs Tanten habe ich nie gehabt. Da waren: Tante Olga, Tante Ludmila und Tante Elena. An der Blase haben die nie etwas gehabt. Die wurden steinalt.“ „Na sowas“, staunt Peter Schrillke, „ich dachte, du kämest von einem ostpreußischen Rittergut – aber das hört sich ja eher nach ‚Russisch-Polen‘ an.“ Helmut Fechmann bleibt unerschütterlich: „Das war ja das Grenzgebiet in Ostpreußen, bei Thierenberg am Haff. Da konnte schon 'mal etwas durcheinander gehen,“

Nachdem der Festumzug zum Versammlungszelt auf dem Sportplatz angekommen ist, macht sich das Trio auf zum Supermarkt. Dem Marktleiter bleibt die Frage nach eventuell gefundenen Wünschen im Halse stecken. Eher verwünscht er seine Kunden. Denn für die vielen Flaschen fehlen ihm passende Bierkästen. Zähneknirschend tauscht er den Dreien den Pfanderlös in frische Pilsener um und legt sie lose in den Bollerwagen, nicht ohne die Ermahnung, sich einmal nach passenden Kästen umzusehen. Helmut Fechmann freut sich über den Hinweis, dass ein solcher Kasten mit  6,60 harter D-Mark bei Rückgabe entlohnt wird.

Mit einer stattlichen Anzahl an Getränken kehrten sie dann in Alfred Bontiks neuer Wohnung ein. In geselliger Runde, konnte dann das folgende Gespräch, wegen der geöffneten Fenster mühelos verstanden werden.

Also erst einmal Prösterchen. Ich bin schon ganz ausgetrocknet.“ erklärte Peter Schrillke. „Na lass 'mal dem Helmut den Vortritt, der hat ja den Wagen gezogen, obwohl die Idee von mir war. Eigentlich steht mir eine extra Portion des frischen Gerstensaftes zu.“ „Stimmt“, pflichtete ihm Peter Schrillke bei, „außerdem stammte ja die Dekoration des Wagens von mir. Das war eine Facharbeit. Einen Bollerwagen ziehen kann Jeder. Also ich genehmige mir auch eine Extra-Ration. Helmut Fechmann fragte verwundert:“ Na, bei dem Pils für Siggi Schnobert habt ihr euch nicht so angestellt.“ Alfred Bontik antwortete ungerührt: „Ich habe ihm doch gesagt, dass es nicht mehr taufrisch ist. Sein Pech, wenn es einen leichten Beigeschmack hatte.“

Helmut Fechmann ließ sich nicht beirren. „Dafür habt ihr jetzt sehr frische
gekühlte Pilsener vor euch. Warum hat denn der Siggi so gemeckert?“

Die Tonlage in Peter Schrillkes Stimme verhärtete sich: „Wenn Du alter Suffkopp nicht hättest wieder pinkeln gehen müssen in die Hecke vom Jürgen Trautwein – dann wäre der Kirschlorbeer am Leben geblieben und Du wärest Zeuge einer echten Tragödie geworden. Der Siggi hatte einen kräftigen Hieb aus der Flasche genommen, dann grölte er: „Das schmeckt ja wie Laternenpfahl ganz unten. So was ist einem Gast in der‘Goldenen Rübenhacke eiskalt serviert worden!“ Anni Tachyfetz‘ stand daneben und meinte: „Lass mich 'mal probieren. Ich arbeite zwar nicht mehr als Fachkraft in der gehobenen Gastronomie – aber man hat ja jahrzehntelange Berufserfahrung. Außerdem ist es ja eh‘ umsonst. Sie nahm einen großen Schluck spuckte die Brühe aus und schrie:“Das ist ja Hundepipi!“ Das haste natürlich ‚mal wieder nicht mitgekriegt. So verging der Frühherbst im schönen Nordharingen.

Im Oktober hat Peter Schrillke Geburtstag. Alfred Bontik war zu einer Feier im engsten Familienkreis eingeladen worden. Vor seinem Abmarsch überlegte er jedoch, was für ein Geschenk er mitbringen könnte. Das war ja nun Ehrensache. Da fiel sein Blick auf den Wohnküchenteppich. Eigentlich sah der ja doch noch wirklich gut aus. Die zwei winzigen Flecken, kaum größer als eine Handfläche, stammten von umgeworfenen Bierflaschen – aber sie fielen nur dem Pingeligen auf. Alfred, bekannt für seine Großzügigkeit, schaute wohlgefällig auf das Muster. „Mamolierung“ hatte seine Mutter es immer genannt. Sie bevorzugte solche Farbtöne: „...weil man da den Dreck nicht sofort sieht.“ Der Teppich war wirklich ‚Klasse‘. Doch störte es ihn ein wenig, dass die Luft in der Wohnküche oftmals stickig war, wenn er von draußen hereinkam. „Perser haben nun einmal ein strenges Aroma“, sagte er zu sich. Deshalb rollte er kurzerhand den Teppich zusammen und gelangte schwitzend mit dem Ungetüm in den 2. Stock des Nachbarhauses. Ihm war eingefallen, das persische Prunkstück als Überraschungsgeschenk zu präsentieren. Er stellte die Rolle neben die Wohnungstür so dass niemand auf den ersten Blick das Geschenk erspähen konnte. Während dieser Vorbereitungen stapfte Helmut Fechmann heran. „Was haste denn da mitgebracht?“, fragte er verwundert. „Psst“, Alfred legte einen Finger auf seine Lippen, „das soll 'ne Überraschung werden.“ „Ich habe auch eine“, erwiderte Helmut würdevoll. Dabei schwenkte er bedeutungsschwanger eine Plaste-Tüte.

Alfred Bontik ließ sich nicht beeindrucken. Er drückte energisch den Klingelknopf und kurz darauf öffnete Peter Schrillke die Wohnungstür. „Herzlichen Glückwunsch!“, schallt es ihm entgegen. Helmut Fechmann drückt Peter die Einkaufstüte in die Hand: „Hier, das ist für dich!“ „Danke schön“, freut sich das Geburtstagskind. Er schaut in den Beutel: „Mann, das ist ja sogar das gute Welfenschloss-Pilsener! Da haste dich aber angestrengt.“ Helmut nickt: „Das kann man wohl sagen. Dieses Herumlatschen, bis ich Alles beisammen bekam. Unser Betriebsleiter Kabuffke hatte sich doch ein neues Auto zugelegt. Das ist ja bei uns so Brauch, dass du dann Einen ausgeben musst. Aber ein paar Angestellte mögen kein Bier, da habe ich gedacht, bei dir sind die Flaschen besser aufgehoben.“ Das stimmt“, antwortet Peter Schrillke im Brustton der Überzeugung. „Ich habe auch etwas für dich“, unterbricht Alfred Bontik. „Schau ‚mal, ein echter Perser!“ Mit diesen Worten versucht er hochkant den Teppich in die Wohnung zu tragen. Als er fast den Türrahmen überwunden hat, stößt er gegen die Deckenlampe in der Diele. Die Hängeleuchte kracht zu Boden. Neben dem Klirren von Glas sind Funken an der Decke zu vernehmen. llonka Schrillke schreit auf: „Das gute Geburtstagsgeschenk von Tante Josefine!“ Der Rest der Unterhaltung geht im allgemeinen Bedauern unter. Hektisch wird nach der Taschenlampe gesucht. Endlich zeigt sich ein dünner Lichtstrahl, der sich durch den Zigarettenrauch seinen Weg bahnt. Die Sicherung wird ausgetauscht. Alfred, ganz Herr der Lage: “Das bringe ich wieder in Ordnung. Bringt mir 'mal 'nen Stuhl! Ich bin ja gelernter Handwerker.“ Von der Decke herab ragen zwei blanke Kabel. Zu Peter hinunterblickend meint Alfred: „Gib mir doch bitte 'mal die Lüsterklemme.“ „Die, hä was?“

Na die Lüsterklemme, wo die Lampe an die Lichtleitung angeschlossen war.“ „Gibt‘s nicht. Ich habe die Drähte zusammengedreht. Habe ich auch früher immer bei meiner Eisenbahn gemacht. funktionuckelt prima.“ Alfred fällt fast vom Stuhl: „Du bist ein Idiot! Das ist doch hier keine Märklin-Eisenbahn, sondern richtiger Strom: Haste denn wenigstens Isolierband?“ llonka schüttelt den Kopf: „Ham‚ wa nicht. Tut‘s auch Leukoplast?“ Alfred nickt. Die Frau holt etwas Leukoplast – und während Alfred die Kabel notdürftig verbindet, entscheidet sich Peter Schrillke dafür, die Dielenbeleuchtung zu testen. Das hat zur Folge, dass mit einem lauten Schrei Alfred Bontik vom Stuhl fällt – 220 Volt, 50 Hertz mähen ihn nieder – doch er landet weich auf den Teppich. Helmut Fechmann jedoch wird leicht ungeduldig: „Lüsterklemme hin oder her. Ich bin lüstern auf ein Bier!“

Nach der Wiederbelebung von Alfred Bontik lässt der Gerstensaft nicht lange auf sich warten. Frau Dörge ist empört: „Herr Keilers, also sowas – also das hat es in diesem guten Hause noch nicht gegeben. Zustände sind das! Also der war ja so besoffen! Immer wieder hat er versucht, die Wohnungstür aufzuschließen!“ „Warum hat er es nicht geschafft?‘, frage ich. „Na, weil er nicht bis drei zählen kann! Der stand nämlich vor Ihrer Wohnung. Nach einer halben Stunde war er dann weg.“ „Ok, Frau Dörge, bis zwei hätte ja auch schon gereicht.“ „Herr Keilers, Sie können sich nicht vorstellen, was hier passiert ist. Sie sind ja am Wochenende nie da. Da gehe ich doch Kohlen holen und finde den Suffkopp im Keller. ‚Herr Bontik‘, sage ich zu ihm, ‚Nu gehen Sie doch 'mal in Ihre Wohnung!‘ Da schaut der mich an: ‚Wieso ich? Ich bin doch zu Hause‘. Herr Keilers, jetzt sagen sie doch was! Das ist doch nicht normal. Und er hatte sich eingepinkelt.“

Ungläubig frage ich: „Eingepinkelt? Wie kommen Sie den darauf?“ Mit fester Stimme antwortet sie: „Da, wo der Kerl gelegen hat, war eine Pfütze. Ich habe das gerochen. Das war Urin – schließlich habe ich zwei Jungen groß gezogen.“ Wenig später sollte ich das Schlüsselproblem mit Wohnungsfindung hautnah erfahren. Dabei war sein Vorgehen sehr methodisch. Er dachte offensichtlich: “Wenn ich es bei dem ersten Mal nicht schaffe sogleich die Wohnungstür aufzuschließen, dann beginne ich am besten von vorn.“ Also ging er noch einmal aus dem Haus, um die Prozedur zu wiederholen. Sicherheitshalber läutete er bei den anderen Mietern,“ Man weiß ja nie...“, wenn der Türöffner summte, dann ging er nach oben. Sein Rekord lag bei sechs Versuchen hintereinander. Dafür waren ihm die Nachbarn auch sehr dankbar. Kamen sie doch zu mitternächtlicher Stunde zu der Gelegenheit sich noch etwas zu bewegen, was ja bekanntlich das Einschlafen fördert.

Nicht nur die Kirche hat zum Betreten des Himmels die Pforte als Barriere erschaffen, sondern auch der soziale Wohnungsbau. Nur mit dem Unterschied, dass am Himmelstor ein Pförtner ständig anwesend ist. Als Alfred Bontik, einige Tage später, mit Siggi Schnobert untergehakt die lange Straße entlang kommt, fängt Alfred an in seinen Hosentaschen zu fummeln. Das fällt ihm sehr schwer, weil er nur eine Hand frei hat.

Siggi hat Gleichgewichtsstörungen, er murmelt beständig etwas von schlechter Wetterlage. Das kann Alfred nachvollziehen, denn ihm ist auch etwas mulmig. Er ärgert sich darüber, denn sie wollen doch die Einweihung der neuen Sitzgarnitur begießen. Das Sozialamt hatte ihm einen Gutschein für ein aufgemöbeltes Sofa geschickt. Alfred fand es besonders schön und praktisch, weil der Bezug aus Kunstleder war. „Das kannste ganz leicht abwischen“, sagte er zu Siggi Schnobert in der „goldenen Rübenhacke“, wo Beide sich zum Frühschoppen eingefunden hatten. Aber das Fummeln bringt keinen Erfolg: „Scheiße“, sagt er laut. Siggi Schnobert, durch das Wetter etwas mitgenommen, fragt aufmerksam: “Häh?“ „Ich habe meinen Schlüssel zuhause liegen gelassen.“ Das kann Siggi nicht erschüttern: „Na dann holen wir ihn uns doch ab. Dann kannste die Tür doch aufschließen. Wo liegt er denn?“ „Auf dem Wohnzimmertisch“, antwortet Alfred nachdenklich, "aber dazu müssen wir erst durch die Wohnungstür. Ach, macht nichts, wozu bin ich gelernter Handwerker.“ „Und ich bin Dachdecker, ich kann dir auf drei Meilen gegen den Wind sagen, ob das Ziegel oder Betondachsteine sind.“ Alfred grübelt: “Na über das Dach zu gehen bringt nichts. Wenn Du da eine Öffnung machst, dann biste auf dem Wäscheboden. Nee, ich habe schon eine Idee.“ Gemächlich treffen sie vor dem Haus ein. Alfred weist Siggi an: „Klingel ‚mal bei der Dörge, die wohnt ein Stockwerk höher.“ „Und denne?“, will Siggi Schnobert wissen. „Das merkste dann schon“, lässt sich Alfred vernehmen. Als sie vor der Wohnungstür stehen, befühlt Alfred fachmännisch die Tür und den Rahmen. „Das wird nicht leicht. Das ist solide deutsche Wertarbeit. Pass 'mal auf. So musst Du das machen.“ Er stellt sich gegenüber vor der Tür der Nachbarwohnung auf. Dann stürmt er los, wie ein verwundeter Stier und wirft sich mit der Schulter vor seine Wohnungstür. Es rumst. Siggi Schnobert ist davon nicht überzeugt: „Ist Eintreten nicht besser? Ich war mal Verteidiger bei SV Bolzholz.“ „Nee“, knurrt Alfred,“keine Chance. Wir müssen die mit der kompletten Zarge aus der Wand hebeln.“ Da erscheint Frau Dörge, die sich zunächst über das Klingeln und das anschließende Ausbleiben des Besuches gewundert hatte. Sie erwartete eigentlich den Klempner. Als dann nach kurzer Zeit laute Geräusche im Treppenhaus zu hören waren, geht sie hinunter. „Was machen Sie denn da?“, fragt sie erstaunt. „Na, sehen Sie doch“, antwortet Alfred Bontik, „irgendwie muss ich ja auch 'mal in meine eigene Wohnung kommen.“ Frau Dörge kann sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen:“Das machen Sie doch sonst ganz anders. Mit mehrmaligem Anlauf vom Vorgarten aus.“ Siggi Schnobert kommt seinem Kameraden zur Hilfe;“ Wir wollen ja bloß den Schlüssel vom Wohnzimmertisch holen, um die Wohnungstür aufzuschließen.“ Frau Dörge bekommt einen leicht irren Blick:“Ja, wie wäre es denn, wenn Sie das Türblech abschrauben und mit einer Zange die Klinke bewegen würden? Dann sind Sie drin.“ „Ach hören Sie doch auf, sowas gibt‘s doch gar nicht“, protestiert Alfred. Siggi pflichtet ihm bei: “Der Herr Bontik ist nämlich gelernter Handwerker – und ich bin Dachdecker!“ Kopfschüttelnd geht Frau Dörge die Treppe nach oben, nicht ohne nachzurufen: „Da sind Sie wahrscheinlich ‘mal vom Dach gefallen und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, da – wo die Intelligenz sitzt.“

Das ist doch eine blöde Kuh!“, schimpft Alfred, „Pass auf, das können wir nur gemeinsam hinkriegen. Also Du läufst mit mir gleichzeitig los und wir werfen uns gegen die Tür.

Mit ohrenbetäubendem Krachen fallen nach dem fünften Versuch zwei Männer in den Flur der Wohnung. Erschöpft bleiben sie liegen. Siggi ist der Erste, der sich erholt. Er klopft sich den Kalkstaub von der Hose und meint: „Das war ein hartes Stück Arbeit. Ich hole ‚mal den Schlüssel vom Wohnzimmertisch, damit wir die Tür aufschließen. Alfred nickt schwach: „Ich brauche jetzt erst ein Bier. Mann, ist das hier staubig.“

Als ich abends von der Firma zurückkomme, fällt mir auf, dass aus Alfred‘s Wohnung durch einen daumenbreiten Spalt zwischen Tür und Rahmen das Licht hindurch fällt. „Merkwürdig“, denke ich. Doch Frau Dörge sollte mir sogleich die Erklärung geben. Nach dem Fall der Beiden hatte sie begonnen, ein wenig die Treppe zu wischen und das Flurfenster zu putzen. Da hörte sie, wie Alfred sagte: „Lass man gut sein Siggi, das passt jetzt so. Ich habe die Zarge wieder prima eingesetzt.“ Siggi bemängelte: „Aber da ist doch noch ein Spalt.“ Alfred beruhigte ihn: “Das ist eine Dehnfuge, das brauchste für die Lüftung.“ Frau Dörge schloss die Schilderung mit den Worten: „Und sowas will ein Handwerker sein.“

Der Monat neigte sich dem Ende zu. Damit leerte sich auch Alfredos Geldbörse. Jetzt hieß es das Bier einzuteilen um nicht auf dem Trockenen zu sitzen. Der Weggang von Anni Tachyfetz schmerzte Alfredo schon, denn sie hatte ihn als Gastronomieexpertin doch bisher stets mit Essen und Trinken versorgt, wenn es knapp mit dem Geld wurde. Die Neue stellte sich dagegen taub für sein Anliegen und war seinen männlichen Qualitäten gegenüber völlig unempfänglich. Als Handwerkerfachmann blieb ihm nun nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach Aufträgen zu begeben. Er war davon überzeugt, dass sein Können und seine vielfältige Erfahrung sich weit in der Region herum gesprochen hatte. Niels Wilhelmsen verkündete drei Tage zuvor, dass ein hiesiger Geschäftsmann an ihn heran getreten sei, der kräftige Männer für Außenarbeiten am Gebäude gesucht hatte, aber keine fand. Leider habe er soviel mit Heizölauslieferungen zu tun, dass er keinen Mitarbeiter entbehren könne, bemerkte er nicht ohne Stolz. Eher uninteressiert erkundigte sich Alfredo nach dem Namen des Unternehmens. Etwas später gab ihm seine knappe Barschaft den Anstoß zu der, wie er meinte, genialen Geschäftsidee.



Die Maschinen- und Apparatebaufirma „Fummel & Schummel“, an der ehemaligen Zuckerfabrik in Nordharingen gelegen, suchte drei kräftige Männer, die einen alten Schuppen abreißen sollten. Er war vor langer Zeit an die Werkhalle angebaut worden. Jetzt war er unbenutzt und stand den LKW im Wege. Neben dem Abriss mussten auch Ausbesserungsarbeiten im Mauerwerk durchgeführt werden, einschließlich eines wetterfesten Anstriches. Obendrein sollte auch das Dach dem veränderten Gebäude angepasst werden. „Den Auftrag kralle ich mir“, dachte Alfredo und machte sich auf den Weg zur alten Zuckerfabrik. Gegenüber dem Geschäftsführer Sigmar Schummel und seinem Betriebsleiter Ferdinand Fummel pries Alfred Bontik seine umfassenden Handwerkskenntnisse und die der Pinselfachkraft Peter Schrillke. Ganz zu schweigen von Siggi Schnoberts Dachdeckerkünsten und die lange Berufserfahrung der Drei.

Aus diesem Grunde entschied der Geschäftsführer Sigmar Schummel, dass der Auftrag an das Dreier-Team gehen solle, weil der geforderte Stundenlohn dem von polnischen Wanderarbeitern entsprach. Mit dem großen Vorteil, dass es bei den „Experten“ keinen Ärger mit dem Arbeitsamt geben würde.

Deshalb fragt wenig später Alfredo den Helmut Fechmann, als sie zur Geburtstagsfeier von Niels Wilhelmsen in der „goldenen Rübenhacke“ sitzen: „Helmut, leihste mir 'mal den Bollerwagen?“ Helmut überlegt kurz: „Das kostet aber einen Kasten Bier als Leihgebühr!“ Alfred bohrt nach:“Willste nicht einen l A-Perser-Teppich haben? Kannst du doch bei deiner großen Wohnstube prima gebrauchen. Das hätte dann echtes Geschicke. Ich kenn‘ jemand, der will sich von so einem Prunkstück freiwillig trennen. Den schenke ich dir!“

Helmut ist nachdenklich, nimmt einen Schluck Bier und sinniert: „Wozu brauchste denn den Bollerwagen?“ Da triumphiert Alfred: „Weil ich als Handwerkerfachmann einen wichtigen Auftrag bekommen habe. Da muss ich die Werkzeuge mit befördern.“ Daraufhin stutzt Niels Wilhelmsen: „Du, und ein Auftrag? Hat dir Frau Dörge aufgetragen, vielleicht einmal in deinem Haus die Treppe zu fegen und die Pisse im Keller aufzuwischen?“ Alfred ist pikiert: „Das glaubste mir wohl nicht, wie? Ich habe durch meine Fachkenntnisse einen verantwortlichen Auftrag ausgehandelt. Das ist immerhin etwas Anderes, als nur Kohlenbestellungen entgegenzunehmen und den Heizölwagen durch die Gegend zuschicken. Und überhaupt – So ein Bedürfnis ist menschlich. Siehste doch bei Helmut. Bei älteren Leuten nennt man das Inkonsequenz. Du pinkelst doch auch in den Tanklaster, um einen Liter Heizöl zu sparen.“

Niels Wilhelmsen ist innerlich am Platzen, doch er versucht ruhig zu bleiben: „Dann dürfte es für dich ein Leichtes sein, zur Geschäftseröffnung eine Runde auszugeben.“ Bevor Alfred noch etwas entgegnen kann trompetet Helmut Fechmann: „Ich nehme ein großes Pils!“ „Alfred, der Niels hat recht, du musst in jedes Geschäft erst einmal investieren, bis du 'mal die dicke Kohle machst wie Niels“, gibt Peter Schrillke zu Bedenken. Doch Alfred ist sauer. Er knurrt: „Bloß gut, dass ich schon 50.-DM Anzahlung erhalten habe. Von wegen der Planungsarbeiten. Aber davon versteht ein Kohlenschipper ja nichts. Helmut. Rufe 'mal die Kathi. Wegen der Pilse. Sonst ist ja nicht soviel an ihr dran.“

Peter Schrillke trinkt schnell sein Glas aus. Er ruft der neuen Bedienung zu:“ Noch 'mal dasselbe, aber wegen meiner Magenbeschwerden noch einen Kümmel vorweg.“ Niels und Helmut beklagen sich auch, dass sie vielleicht von der grassierenden Magen-Darm-Grippe befallen seien und würden gern einen Magenbitter zum Bier bestellen. Alfred Bontiks Antlitz gleicht einer verschimmelten Rübe. Das nimmt Peter Schrillke zum Anlass für einen launigen Scherz: „ Kennt ihr den? Ilse ging in die Pilze. Da willtse - jetzt stilltse. Scheiß-Pilze!“

Helmut Fechmann fasst sich als Erster: „Nee, Pilze habe ich schon in Masuren nicht vertragen. Hat die Ilse selber schuld. Aber, Alfred, du kannst den Bollerwagen haben. Ich weiß ja auch, dass du von Teppichen etwas verstehst.“

Am darauffolgenden Montag schellt schon früh Alfred Bontik bei Peter Schrillke. Es dauert, bis Peter in verschlissenen Arbeitsklamotten und mit einem weißen Hütchen auf dem Kopf erscheint. In beiden Händen hält er einen Eimer, aus dem verschiedene Pinsel herauslugen. „Wie siehst du denn aus“, wundert sich Alfred. „Das ist mein Arbeitsanzug, wo ich damals fast meine Prüfung zum Maler und Lackierer gemacht hätte. Hast du denn noch kein Werkzeug dabei? Ich denke, deshalb hast du doch den Bollerwagen gebraucht.“ Alfred erwidert souverän:“ Erst einmal holen wir Siggi ab und dann kaufen wir die Werkzeuge.“ „Was“, staunt Peter Schrillke, „du willst zum Urbi nach Bad Salzhausen? Mit dem Bollerwagen?“ „Warte es ab“, beruhigt ihn Alfred. Die zwei gehen gemütlich den Sudetenring entlang, wo Siggi Schnobert wohnt. Der steht schon vor der Haustür. „Na, endlich“, ruft er,“ es ist ja gleich acht Uhr!“. „Ich habe gleitende Arbeitszeit ausgemacht“, antwortet Alfred Bontik, „außerdem macht der Edeka-Laden erst um acht Uhr auf.“ „Was willste denn da?“, fragt Peter Schrillke. „Na, Werkzeuge kaufen.“ Siggi Schnobert und Peter Schrillke schütteln den Kopf. So trotten sie Alfred Bontik hinterher, der es sich nicht nehmen lässt, den Tischlermeister Studer, der gerade von seinen Transporter mit einem Gesellen und dem Azubi dicke Balken ablädt, zu begrüßen: „Tach, Herr Handwerkskollege. Na, auch schon so früh auf den Beinen?“ Karl Studer ist so verblüfft, das er eine Bohle fallen lässt, die dem Azubi auf den Fuß fällt. „Was ist das denn für eine Kolonne?“, lässt sich der Geselle vernehmen. Meister Studer findet immer noch keine Worte. Der Azubi antwortet mit gequältem Blick: „Sie haben immerhin eine sehr eindrucksvolle Wirkung erzeugt.“ Da wird Herr Studer böse: „Warum müsst ihr Bengels auch immer bloß Turnschuhe tragen. Kannst dir ja auch 'mal Sicherheitsschuhe mit Stahlkappen zulegen!“

Das Trio gelangt zum Edeka-Laden, als der Marktleiter gerade die Eingangstür aufschließt. Mit einer Einkaufstüte und einem Kasten Bier wartet bereits Kurt Keune. Er mosert: „Es wird auch Zeit, ich muss wieder in die Firma.“ Der Marktleiter verkneift sich wiederum die Frage nach den gefundenen Wünschen. Offenbar wissen seine frühen Kunden, was sie wollen. Siggi muss den Bollerwagen bewachen, während Alfred Bontik und Peter Schrillke sich einen Einkaufswagen schnappen. „Hasse ‚mal 'ne Mark?“, fragt Alfred. Peter wundert sich: „Ich denke, du hast Vorschuss von der Firma bekommen.“ Alfred entgegnet ungerührt: „Na klar, aber jede solide Firma muss auch Rücklagen bilden.“ Gezielt steuert Alfred mit dem Einkaufswagen in die Getränkeabteilung. „Hier gibt es aber keine Werkzeuge“, quengelt Peter. Alfred antwortet überlegen: „Tja, das ist eben der feine Unterschied. Du hast nur gelernt deinen Pinsel zu schwingen. Ich, dagegen, bin auf vielen Gebieten versiert. Es sind Maurerarbeiten bei „Fummel & Schummel“ zu verrichten. Du musst das nur später anstreichen. Ich dagegen arbeite als Maurer – und der braucht 21 Werkzeuge.“ „Was?“, fragt ungläubig Peter, „vielleicht zwei Maurerkellen, Maßband und Hammer. Ich habe ja schon öfter auf Baustellen gearbeitet.“ Alfred Bontik bleibt unerschütterlich: „Mag‘ ja sein. Dann warst du wahrscheinlich zu sehr beschäftigt um das alles zu überblicken. Also, der Kunde stellt das zur Verfügung. Man nennt das bauseitig. Aber es geht um die Werkzeuge, die ein Bauherr nicht ohne weiteres parat hat. Darum sind wir hier. Also, einen Kasten „Lutterbräu“ zu 20 Halbliter-Flaschen und eine Bild-Zeitung. Hilf mir 'mal bitte.“

Gegen 8.30 Uhr trifft die Gemeinschaft auf dem Werksgelände der Firma ein. Der Betriebsleiter Ferdinand Fummel begrüßt die Truppe säuerlich mit:“ Guten Tag auch!“ Alfred blickt mit ausladender Geste auf seine Armbanduhr: „Ich denke, wir sollten jetzt einmal die Dienstbesprechung unter uns Führungskräften abhalten. Dann können die
Jungs erst einmal Frühstück machen. Ich bin es ja gewohnt, durchzuarbeiten.“ Mit einem Blick auf seine Vasallen ruft er noch: „Hebt mir ja eine Flasche auf!“, und wendet sich zu der Baracke, wo Sigmar Schummel wüst den Telefonhörer schwingt. Der Geschäftsführer redet englisch. Alfred kann nichts verstehen. Nach langer Zeit legt Herr Schummel den Telefonhörer auf. Er ignoriert die Anwesenheit von Alfred Bontik und sagt erleichtert zu seinem Kompagnon Ferdinand Fummel: „Die Anlage ist bei dem Schiffstransport im indischen Ozean durch einen Sturm so beschädigt worden, dass sie unbrauchbar ist.“

Prima“, freut sich Ferdinand Fummel, „dann ist das ein Fall für die Versicherung. Denn da war ja sowieso der Wurm drin.“

Sigmar Schummel bemerkt jetzt erst die Anwesenheit von Alfred: „Sie fangen aber zeitig an!“ Das empfindet Alfred Bontik als Kompliment und entgegnet mit stolzgeschwellter Brust: „Es ist unser Hauptbedürfnis, unsere Kunden zu befriedigen.“ Sigmar Schummel nach einem kurzen Blick auf die Uhr: “ Na, dann sehen Sie einmal zu, dass sie uns befriedigen können, wenn Sie bis heute Abend die Arbeiten erledigt haben. Der Herr Fummel zeigt Ihnen, wo es entlang geht.“

Nachdem der Bierkasten sicher verstaut wurde, schwingen Alfred und Peter Schrillke den Vorschlaghammer. Die Arbeiten gehen schnell voran. Peter Schrillke hat eine Prellung am Schienbein, weil ihm einige Steine der Wand zugleich entgegen kamen. Siggi Schnobert dagegen blutete etwas am Kopf. Ein Winkeleisen, das Alfred mit Gewalt aus der Verankerung reißen musste, prallte auf ihn nieder. Aber die tröstenden Worte von Alfred: „Wo gehobelt wird, fallen Späne!“, richteten ihn wieder auf.

Platzwunden sind besser als Kratzer vom Feuerdorn. Da, weißte nie, ob dann nicht eine Entzündung draus wird“, tröstet Alfred den Blutenden. Siggi Schnobert holt sich vom Klo Toilettenpapier und wickelt es sich um den Kopf. Ein langer Streifen hängt über seinen Hinterkopf auf den Rücken. „Mann, jetzt kannste ja sogar als Scheich zum Film gehen. “Vom Winde verweht!“, staunt Peter Schrillke. Da ertönt das Gebrüll von Ferdinand Fummel:
„Ihr seid wohl nicht nur vom Winde verweht, sondern völlig durch den Wind! Also macht voran da!“ Siggi Schnobert ist noch leicht benommen,aber findet seine Fassung wieder: „Herr Fummel, die Dachrinne muss verlegt werden, sonst kriegen Sie da die Nässe ‚rein.“ Der antwortet leicht gereizt: „Ich denke Sie sind der Dachdecker. Also machen Sie das dann eben.“ Siggi zweifelt: „Das sind eigentlich Klempnerarbeiten. Ich weiß nicht, ob ich da so gut machen kann.“ Sigmar Schummel, der von weitem das Geschrei vernahm ist näher gekommen und wehrt ab: „Ich habe auch schon oft genug Maschinen verkauft, von denen ich keine Ahnung hatte wie sie wirklich funktionieren. Also machen Sie schon!“

Zu diesem Zwecke wird eine Leiter beschafft. Alfred Bontik hat die Mauerdurchbrüche verfüllt. Dort, wo kein Stein mehr hinein passte, schob er eine Getränkedose hinein und mörtelte sie zu. „Das nennt man neue Verbundwerkstoffe“, belehrt er Peter Schrillke. Jener ist damit beschäftigt, die neue Außenwand zu streichen. Links neben ihm steht auf der Leiter Siggi Schnobert und zerrt an der Dachrinne. „Ich brauche einen Lötkolben – wenn ich den Anschluss an das Fallrohr machen soll.“, nörgelt er. Alfred, Herr der Lage: „Das hat man vor hundert Jahren so gemacht. Ich hole ‚mal aus dem Magazin Silicon mit Spritze. Da kriegste alles dicht. Aber ich muss noch eben den Schutt mit der Schubkarre wegfahren.“

Er greift beherzt mit beiden Händen an die Griffe der Schubkarre, doch ihm machen die Zwischenbiere, also jene zwischen den offiziellen Pausen, zu schaffen. Deshalb stößt er während des Wegfahrens gegen die Leiter. Diese fällt um. Dabei wird der Farbeimer ausgekippt, Siggi Schnobert hängt an der Dachrinne, strampelt mit den Beinen in der Luft und Peter Schrillke freut sich: „Prima, die Leiter kommt mir wie gelegen. Ich muss
noch oben weiter streichen,“ Während Alfred den Bauschutt zum Sammelplatz fährt, gelangt Siggi Schnobert durch die langsam abknickende Dachrinne auf den Erdboden. „Das ist die Lösung“, befindet er stolz, „Jetzt gelangt das Regenwasser vom Dach direkt auf den Boden, ohne Fallrohr. Da hätte ich eher drauf kommen müssen.“ „Ja, Scheiße was“, entgegnet Peter Schrillke, „der Farbeimer ist umgestoßen worden. Jetzt haben wir keine Farbe mehr.“ Siggi aber, im guten Vertrauen auf seine fachmännische Arbeit: “Warte ‚mal auf unseren Chef. Der wird schon etwas finden.“ In leichten Schlangenlinien kommt Alfred Bontik mit der Schubkarre zurück. “Sieht doch gut aus“, meint der, „Peter, warum machste denn nicht weiter?“ „Weil vielleicht die Farbe umgestoßen wurde“, gibt Jener gereizt zurück. „Moment‘ mal, ich habe dahinten einen Farbeimer gesehen. Ich komme gleich wieder.“ Nach wenigen Minuten kehrt Alfred mit einem neuen Eimer zurück. „Das ist ein schönes Blau. Diese einfarbigen Fassaden sind sowieso aus der Mode. Peter, jetzt kannste weiter malern.“

Nachdem Peter Schrillke den oberen Teil der Fassade beendet hat, entsteht in der benachbarten Werkhalle ein Tumult. Ferdinand Fummel wütet dort: „Was ist das denn für eine Schweinerei! Ich habe euch doch gesagt, dass ihr reichlich Farbe einkaufen sollt. Heute Nacht kommt der LKW, um die Förderschnecke abzuholen. Wo ist der Rest der Farbe?“ Man hört einige devot murmelnde Stimmen: „Wir haben unser bestes getan.“ Da tritt Herr Fummel aus der Halle. Er erstarrt: „Was ist das denn?“ Alfred geht auf ihn zu: „Eine absolute Facharbeit.“ Der Betriebsleiter glaubt zu träumen: „Wieso bitte grau und blau? Es war doch etwas anderes abgesprochen.“ Alfred, nicht um eine Spur verlegen: “So einfarbige Fassaden – das macht man nicht mehr heutzutage. Es geht doch mehr um ein ureigenes Farben-Event.“ Das hatte er einmal in der Kundenzeitschrift bei dem Fleischer gelesen, als eine staatlich geprüfte Hausfrau sich scheibchenweise den Aufschnitt auswiegen ließ. Er fand das beeindruckend.

Darum ist er jetzt sehr stolz, dass das auch seinen Eindruck auf den Betriebsleiter nicht verfehlt. Der stottert: „Ja, wenn Sie meinen.“ Unvermittelt brüllt er los: „Wo ist denn die verdammte Farbe geblieben?‘ Peter Schrillke beendet das Pinseln. Er ruft von der Leiter herab: „Ich habe noch einen Liter davon, den können Sie haben, wenn Sie wollen!“ Ferdinand Fummel fängt an zu brüllen. Sigmar Schummel tritt, angelockt durch den Krawall, hinzu und gebraucht Ausdrücke, die seine Kunden sicherlich noch nicht von ihm vernommen haben.

Nach kurzer Pause entscheidet er: „Eben wurde im Radio ein Stau auf der A 7 gemeldet. Wir schicken den Willi nach Bad Salzhausen um bei „Urbi“ Farbe nachzukaufen. Die Lieferverzögerung geschieht also durch höhere Gewalt.“ Herr Schummel hat sich ein wenig beruhigt. Mit heiserer Stimme ergänzt er: „Sie Herr Bontik, werden allerdings einsehen müssen, dass unser seriöses Unternehmen nicht gewillt ist, Leistungen zu bezahlen, die nicht unserem hohen Qualitätsstandard entsprechen. Wir sehen einmal von Regressforderungen ab. Als Ausdruck unserer Kulanz.“

So kam es, dass Alfred mit der letzten Flasche Bier getröstet wird und an der Lektüre der Bild-Zeitung keine Freude mehr findet. Peter Schrillke bittet ihn: „Wenn Du gerade einmal den Bollerwagen zur Hand hast, kannste da nicht auch den Teppich gleich mitnehmen? der Helmut braucht sowas für seine gute Stube. Der riecht doch etwas streng.“ Alfred nickt: „Das ist bei Persern so. Nimm‘ lieber einen Inder, der von Kindern handgeknüpft wurde.“ Damit macht sich Alfred auf den Weg. Helmut Fechmann ist über seinen neuen Wohnzimmerschmuck derart begeistert, dass er es allen Interessierten in der Firma erzählen muss.

An unserem Tisch neigt sich bereits die zweite Rotweinflasche bedenklich ihrem Ende zu. Die Zahl der Gäste im Restaurant ist weiter angewachsen, denn der Sturm hat noch nicht nachgelassen. Mein Kollege ist trotz vorgerückter Stunde noch munter und fragt: „Was ist aus dem Herrn Bontik denn geworden?“

Ich muss gestehen: „Das habe ich erst später von Frau Dörge erfahren, als ich sie einmal in Bad Salzhausen getroffen habe. Alfredo war irgendwann wieder einmal knapp bei Kasse. So entschied er sich, seine Lieblingskneipe „zur goldenen Rübenhacke“ aufzusuchen um sich im Gasthof ein deftiges Jägerschnitzel mit einem kühlen Pils zu bestellen. Während Alfredo mit Genuss sich labte, kam der LKW der Lutter-Brauerei. Der Wirt ließ seine Geldbörse auf dem Tresen liegen und stieg in den Keller, wo die Fässer hinein gerollt wurden. Hastig beendete Alfred seine Mahlzeit, kippte das Bier hinunter und verschwand samt Portemonnaie aus der Gaststube. Kein Anderer zu dieser Zeit war dort anwesend.

Im Supermarkt setzte er dann das Bargeld in Hochprozentiges um. Man fand ihn auf einer Friedhofsbank, wo er laut schnarchte. Der Jungunternehmer kam dann nach Wolfenheim in Staatspension, wo er gesiebte Luft atmen durfte. Das ist nun einige Jahre her. Später munkelte man, er habe sich in die Politik begeben und hätte den Korruptionsskandal zwischen dem konservativen Abgeordneten Udo Schlenker von Krawall und dem Bauamtsleiter von Bad Duckenstedt eingefädelt. Möglich ist das schon, denn organisatorische Qualitäten konnte man ihm gewiss nicht absprechen.“

Mein Kollege erhebt das Glas und mit dem Rest des schweren Bordeaux stoßen wir an: „Auf die gelernten Handwerkerfachkräfte!“