Ein Spiegelbild

eine Erzählung aus verblühten Landschaften

von

Stephan Ebers



Mit scharrendem Geräusch öffnet sich die Haustür, fahles Flurlicht schimmert durch das Blau des winterlichen Morgens. Jemand kommt die Steintreppe herab, knirschende eilige Schritte, am Hoftor wird gezerrt, ein meterbreiter Spalt, durch die sich eine jungenhafte Gestalt zwängt.


Die Straße ist unbelebt. Eine einsame Laterne bringt eine hauchdünne Schicht auf dem Asphalt zum Glitzern, der Junge rutscht darüber, prüft ob es glatt ist. Längs der Straße stehen vereinzelt Häuser, dazwischen ein Feld, an der Straßenecke die nächste Laterne. In den Häusern scheint niemand aufgestanden zu sein. Hinter den Vorhängen bleibt es dunkel. Der Junge zurrt seinen Rucksack fester. In die Hauptstraße eingebogen, kommt ihm ein Lieferwagen entgegen. „Ihre Landbäckerei“ steht darauf und die Rücklichter verlieren sich schnell in der Ferne. Vom Kirchturm schlägt eine scheppernde Glocke siebenmal. Der Schritt wird beschleunigt, aus der Ferne ist das Geräusch eines herannahenden größeren Fahrzeuges zu vernehmen. In etwa dreißig Metern Entfernung steht eine kleine Menschengruppe. Zwei Frauen unterhalten sich. Die Gesichter drücken eine widerwillige Müdigkeit aus.


Es wird nun schon früher hell, über den Hainberg sieht man schon die Sonne aufgehen,“ bemerkt eine Frau. Sie mag vielleicht um die vierzig Jahre zählen. Ihr eng um den Kopf gebundenes Kopftuch lässt sie älter, ja bäuerlicher aussehen. Ihr Gegenüber, trägt eine Pelzkappe, die vor vielen Jahren einmal modisch gewesen sein mochte. Das Gesicht zeigt die Spuren fortgeschrittenen Alters, aber die Augen sind wach und sie mustern die Umstehenden, bevor die Frau langsam antwortet: „Nun freilich, jetzt ist es auch die Zeit, wo es wärmer wird, wo ich frühs auch nicht mehr soviel Licht brennen muss. Man ist es gar nicht mehr gewöhnt. Wenn ich nicht zum Augenarzt nach Wartern müsste, würde ich es mir daheim im Bett gemütlich machen. Das geht so schnell, wenn ich da an früher denke, da war ich jetzt schon im Büro.“ Die jüngere Frau nickt: „Aber stinken tut es von der LPG immer noch wie früher. Dabei hieß es doch, der neue Besitzer wolle in moderne Stallungen und Belüftung investieren. Er versprach doch sogar die Anzahl an Mastvieh zu verkleinern.“ Die Ältere nickt: „ Ja ja, im Münsterland ist nicht automatisch alles besser; ich weiß noch, wie ich mit deiner Mutti morgens immer auf dem Weg geschimpft habe, wenn der Wind ungünstig stand. Am schlimmsten war es im Sommer, wenn es heiß war. Kein Fenster konnte man des Nachts öffnen. Nun sind wir Beide nicht mehr dort. Deine Mutti ist tot und ich hab' die Rente.“ Ein Mann um die sechzig hustet, schnippst seine Zigarette auf die Straße und bemerkt: „Was da heute stinkt, das sind die Westschweine.“ Es ist ein bitteres Lachen, doch dem Jungen gefällt es und er gluckst fröhlich. In diesem Moment umfährt der Bus die Dorflinde und bremst vor der Menschengruppe. Zischend öffnet sich die Tür.


Der Mann verlangt einen Fahrschein nach Wendersleben, die Anderen wollen in die ehemalige Kreisstadt. Im Bus sitzen nur drei Jugendliche, die vor sich hin dösen und ein Mann undefinierbaren Alters schnarcht laut. Sein Atem verbreitet einen alkoholischen Brodem. Der Bus setzt sich in Bewegung, neben dem Fahrer quäkt ein Radio. Nach kurzer Zeit rumpelt der Bus über Bahnschienen, das Blau beginnt zu weichen, es wird heller. „Das wird ein schöner Tag“, lässt sich die alte Frau vernehmen. Der Junge schaut aus dem Fenster. Es beschlägt immer wieder schnell, aber unverdrossen wischt er sich den Blick frei, Rauhreif liegt über den Feldern, die Büsche sind weiß überkrustet. Der rötliche Streifen über dem Hainberg wechselt zu einem goldgelb. Ja, ein schöner Tag, denkt er sich und doch fühlt er innerlich mehr die Kälte und Härte des winterlich überfrorenen Bodens.



Clingen 

Auf dem Spritzenhaus in Ringlern thront neben der Sirene eine Halterung für das Storchenpaar, welches im letzten Sommer unter breiter öffentlicher Beachtung seit vielen Jahren zum ersten Male wieder brütete. Er denkt an seinen Vater, der ihm als Kind oft von den weiten Reisen der Störche berichtet hatte. Zu Zweit stellten sie sich vor, wie es in dem fernen Afrika wohl im Winter aussehen möge. Sein Vater endete dann meist mit: „Ob wir eines Tages einmal dorthin kommen werden?“ Der Bus hat einige neue Fahrgäste aufgenommen und setzt sich schnaubend in Bewegung. Ein Älterer, der offenkundig mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hat, hangelt sich durch den Gelenkbus.. Er setzt sich auf die Bank gegenüber und sucht mit zittrigen Händen unablässig etwas in seinen Manteltaschen. Der Junge lässt seine Gedanken weiter schweifen. Die Störche sind fortgezogen, sein Vater auch. „Irgendwo bei Stuttgart sei der Kerl weggemacht“ so schimpft seine Mutter. Bei Bekannten fügt sie „mit seiner neuen Ische“ hinzu. Doch die Gedankengänge werden unterbrochen. Der Mann hat offenbar gefunden, was er sucht. Ein Flachmann wird hastig aufgeschraubt und in zwei kräftigen Zügen vom ihm geleert. Ein genussvolles „Aah!“ stößt er aus, „das bringt den Kreislauf auf Touren.“ Er wendet sich an den Jungen mit den Worten: „Warte 'mal, ich habe noch was. Du fährst bestimmt zum Arbeitsamt um diese Zeit. Wie alt biste?“ Der Angesprochene entgegnet. „Achtzehn, ich soll eine Maßnahme kriegen zur Eingliederung, als ob ich nicht arbeiten könnte.“ Der Alte nickt:“ Das können wir ja nicht, haben wir nie gelernt im Sozialismus, sagen sie zu uns. Als ob die im Westen nicht auch nur mit Wasser kochen. Ich war Brigadier in unserem Kombinat, nun soll ich ein Bewerbertraining machen, wozu, wenn's keine Stellen gibt?“ Während er spricht, fischt er ein Magenbitterfläschchen aus der anderen Manteltasche und reicht es dem Achtzehnjährigen. „Hier, nimm erst einen richtigen Schluck, ist gut für den Magen. Dann biste ruhiger, wenn du gegenüber den Kühen vom Amt sitzt. Die Eine da, die war mal in einer Putzkolonne in der Kombinatsverwaltung. Weil sie wusste, wie ein Schreibtisch aussieht und sie sonntags in die Kirche ging, wurde sie als Bürgerrechtlerin anerkannt und zum Arbeitsberater umgeschult.“ Umständlich schraubt der Beschenkte das Fläschchen auf und lässt den Inhalt über die Zunge in den Rachen laufen. Fast verschluckt er sich. Er spürt den bitteren Geschmack auf der Zunge, das Brennen in der Speiseröhre und die plötzlich aufsteigende Wärme vom Magen. „Das tut gut“, meint er, „da ist also aus einer Bürgerrechtlerin eine Bürgerunrechtlerin geworden.“ Der Mann nickt: „Du hast es kapiert. Lass' uns aussteigen, bis zum Bahnhof wollte ich nicht fahren.“


Berka-Jecha

Am Eingangstor der stillgelegten Maschinenfabrik verlassen sie den Bus. Ein frisch bemaltes Schild prangt neben dem halboffenen schief in den Angeln hängendem Tor dessen Eisenstäbe, gleich einer strahlenden Sonne angeordnet, von einst unerschütterlichem gesellschaftlichen Fortschrittsglauben künden. Auf dem Schild: „zur Arbeitsagentur 500 m rechts“. Sie streben einem ziegelroten Neubau zu, vorbei an der Fahne mit dem Emblem der Arbeitsagentur. Ihre Wege verlieren sich in den Gängen, wo auf den Stahlrohrstühlen meist schweigende Besucher warten, oder sich nur im gedämpften Tonfall unterhalten. Er hat Glück, denn niemand sitzt vor dem Zimmer seiner Sachbearbeiterin. Das bedeutet, er wird vielleicht eine halbe Stunde hier verbringen müssen. Hin und wieder öffnen sich Türen, Menschen kommen heraus, gekleidet in dezenten Farben und drehen blitzschnell den Schlüssel im Schloss, als hätten sie Angst vor den Perspektivlosen, fürchteten sich vor Rache. Unnahbar ziehen sie auf Armeslänge an den als Kunden etikettierten Bittstellern vorbei. Wer würde es wohl wagen den Unabkömmlichen, den Wichtigen mit ihrem straffen Schritt eine Frage zu stellen?


In der Wartezeit unterbrochen von Fußwippen, gelegentlichem Armstrecken und ungezähltem Gähnen, denkt er an seinen letzten Besuch. Da ruft eine Frau mittleren Alters laut: „Herr Barnstorff?“ Der Junge steht auf und wenig später sitzt er vor einem Schreibtisch auf dem sich Aktenberge auftürmen. Die Frau sucht offensichtlich seinen Vorgang und plötzlich zieht sie aus einem Stapel einen Hefter hervor, klappt ihn auf, runzelt die Stirn und entgegnet: „Tja, das sieht ja nun gar nicht gut mit Ihnen aus. Haben Sie die Bewerbungen mitgebracht? Aber reichlich bitte, sonst gibt es Leistungskürzung.“ Der Angesprochene öffnet seinen Rucksack, fördert einen Schnellhefter zutage. Dort sind verschiedene Bewerbungsanschreiben abgeheftet. Mit spitzen Fingern blättert die Sachbearbeiterin die Kopien durch, studiert die Firmenadressen. „Wo ist die Bewerbung für das Betonwerk Heidrungen? Das habe ich Ihnen doch extra aufgetragen. Also, da zahlen wir jetzt erst einmal gar nichts.“ Ein mutiger Junge war Ronny Barnstorff noch nie, doch die Frau hat seine Geduld überdehnt. „Als ich die Bewerbung dort abgeben wollte, riss ein Bagger gerade die letzte Wand des Bürohauses ein. Ich habe die Bewerbung dann in den Briefkasten gesteckt. Der befand sich nämlich noch an den Zaunplanken, die die Arbeiter neben den Resten des Silos aufgestapelt hatten.“ „Nun werden sie mal nicht frech hier, ja?“ Die Frau wird ärgerlich, doch schnell beruhigt sie sich und fährt fort: „Es gibt da eine Maßnahme für junge Leute, die sagen wir mal, so wie Sie gestrauchelt sind um dort den Hauptschulabschluss nachzuholen. Da fahren Sie am besten sofort hin und melden sich bei der Frau Pritzkoleit. Der nächste Lehrgang beginnt am Montag. Das ist in Rostleben, dahin fährt auch ein Bus. Wann haben Sie noch mal die Schule verlassen?“ Ronny lächelt gequält: „Vor zwei Jahren mit dem Abschluss der zehnten Klasse und der Durchschnittsnote zweikommafünf.“ Die Frau notiert etwas mit einem Filzstift in seiner Akte und bemerkt kurz: „Das finde ich hier nicht so schnell. Haben Sie wohl vergessen eine Kopie dem Antrag beizufügen. Ist auch egal. Wenn Sie sich da nicht melden, dann wird’s wirklich ernst mit der Kürzung.“ Sie schiebt ihm einen Zettel mit der Anschrift der Bildungseinrichtung über den Tisch. „Den nächsten Besuchstermin teile ich Ihnen schriftlich mit.“ Die Unterredung ist beendet und Ronny verabschiedet sich wortkarg von ihr. Am Busbahnhof prägt er sich die Anschrift ein: „proVita – Gesellschaft für Qualifizierung mbH, Am Kaliwerk 26b, Rostleben.“ Der nächste Bus soll in eineinhalb Stunden abfahren.


Auf dem Gelände des ehemaligen Kalibergwerks, welches schon weit im Tal sichtbar war, hatte Frau Pritzkoleit soeben die Kaffeemaschine frisch befüllt, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und eine Männerstimme verlangte den Herrn Doktor zu sprechen. „Wen darf ich melden“, fragte sie. „Hier ist der Leiter des Hauptamtes Jürgen Barnstorff und ich möchte Ihren Chef sofort sprechen.“ Etwas spitz erwiderte sie: „Der Herr Doktor ist in einer Beratung, aber ich kann ja mal versuchen, ob sie vielleicht schon zu Ende gegangen ist.“ Unwillig betätigte sie die Vermittlungstaste, das Gespräch wurde angenommen und nun durfte sich Doktor Gericke einen aufgebrachten Amtsleiter anhören. „Ich hatte mich doch klar und deutlich ausgedrückt, dass der Ausbildungsplatz für meinen Sohn nicht in Rostleben, sondern bei euch in der Niederlassung Großföhra eingerichtet wird. Wie oft soll ich noch sagen, dass man ihm die Fahrerlaubnis weggenommen hat und die Sache noch nicht gerichtlich geklärt ist. Soll der mit seinem Mountainbike bis nach Rostleben fahren, oder meine Frau ihn chauffieren?“ Seinen Ärger unterdrückend antwortete er : „Sie wissen doch, dass die Fördermittel orts- und zweckgebunden sind. Der Ausbildungsplatz kann nur in Rostleben eingerichtet werden. Wir haben in Großföhra keinen Ausbilder für EDV-Kaufleute.“ „Dann lasst euch was einfallen. Der Junge kommt heute bei euch vorbei und will am Montag anfangen. Lernt mal improvisieren wie wir das über vierzig Jahre gemacht haben.“ Die Leitung wurde schnell getrennt. Zurück blieb ein grämlicher Doktor, der sich in diesem Moment in sein Haus im Ahrtal zurück wünschte. Viel Zeit um an sein gemütliches Heim zu denken wurde ihm nicht beschert. Das Telefon läutete wieder und Frau Pritzkoleit meldete den Landrat, der aus dem Auto anrufe. „Tach, Herr Gericke, na haben Sie sich schon bei uns im schönen Wippertal eingelebt?“ „Guten Tag Herr Wallachski, ja auch nach zwei Jahren ist hier vieles noch neu für mich“, antwortet der Angesprochene und beeilt sich zu fragen, „womit kann ich Ihnen dienen?“ „Ja, sehen Sie 'mal Herr Gericke, man lernt ja immer dazu, nicht wahr? Das sagt mir meine Frau auch immer, aber Sie kennen doch den Herrn Barnstorff, der hat sich als Bürgerrechtler damals fast um Kopf und Kragen gebracht. Das muss man einfach anerkennen und Sie wissen ja selbst wie junge Leute nun so sind. Heißsporne eben – aber immer gutmütig. Nun berichtete mir der Herr Barnstorff vor einigen Tagen, dass sein Sohn bei Ihnen einen Ausbildungsplatz erhalten hat. Das finde ich großartig, ehrlich, Sie bemühen sich wirklich um unsere Jugendlichen, die durch die DDR so schwer traumatisiert wurden. Da ist doch auch wichtig, dass die Anfahrtswege zum neuen Job nicht so weit sind. Rostleben ist ja nun am anderen Ende unseres Landkreises, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Dr. Gericke stieg das Blut zu Kopf, er ärgerte sich über den wieder so gut funktionierenden „kurzen Dienstweg“: „Ich konnte Sie eben schlecht verstehen, Sie sind wohl an einem Funkloch, der Ausbildungsplatz ist eine Fördermaßnahme für das, wie Sie ja sagen, etwas abseits liegende Territorium im Kreis.“ „Hören Sie mal, das kommt ja wohl auf den Standpunkt an“, erwiderte der Landrat. „Ich stehe viel mehr auf dem Standpunkt, dass man flexibel sein muss. Es fordert niemand Unmögliches von Ihnen und Ihrem Ausbildungsplatz. Bei uns findet die Ausbildung auch oft in den Außenstellen statt. Das müsste auch in Ihren Schädel reingehen. Ich erwarte Ihre Vollzugsmeldung bis morgen.“ Der Geschäftsführer wurde kleinlaut. „Das erfordert Strukturveränderungen, aber es wird schon gehen.“ Er fühlte eine Niederlage erhalten zu haben. Doch wie ausgewechselt antwortete der Landrat:“ Sie haben da meine volle Unterstützung und noch etwas, ich hätte es ganz vergessen. Ich war gestern im Landesverwaltungsamt. Ihr Antrag auf Genehmigung zwei weiterer geförderter Arbeitsplätze im Bereich Catering sind sehr wohlwollend begutachtet worden. Jetzt muss ich aber raus.“ Die Verbindung wurde unterbrochen. Dr. Gericke bat seine Sekretärin, sofort den Herrn Hochfeld herbei zu rufen. Der kam nach einigen Minuten und erfuhr zu seinem Erstaunen, dass er ab nächstem Montag für zwei Tage in der Woche nach Großföhra zur Betreuung des neuen Auszubildenden abkommandiert würde. „Warum fängt er nicht bei uns in Rostleben an, wie vorgesehen?“ fragte er. Dr. Gericke entgegnete leichthin: „Wir sind eben flexibel und bei uns steht der Dienstleistungsgedanke im Vordergrund. Der Junge hat keinen Führerschein. Wie soll er aus Possenhausen hierher kommen?“ Herr Hochfeld war platt: „Ich habe eine Fahrerlaubnis, aber kein Auto, aus Kostengründen, wie Sie wissen. Dann soll ich mit dem Bus fahren?“ Dr. Gericke machte nun seinem aufgestauten Ärger Luft: „Dann tun Sie eben was für die Umwelt, wenn Sie den Bus nehmen.“ Versöhnlicher schob er noch nach: „Sie können ja den Barkas nehmen, wenn er wieder aus der Reparatur zurück ist. Den Sprit müssen Sie aber selbst bezahlen.“


Die Uhr zeigt fast zwölf Uhr, Frau Pritzkoleit rüstet sich für die Mittagspause, da klopft es an ihre Bürotür und ein Junge, nicht allzu groß, von drahtiger Gestalt, mit kurzen Haaren, abgesehen von den wenigen blondierten Strähnen, die ihm keck ins Gesicht fallen, schaut vorsichtig in das Zimmer hinein. „Ich sollte mich hier melden“, beginnt er. Unwirsch sieht Frau Pritzkoleit auf. Sie ist gerade im Begriff ihre Handtasche zu nehmen um zu der nahe gelegenen Imbissbude aufzubrechen. „Schön, und wer bist du?“ „Ich heiße Ronny Barnstorff und komme aus Possenhausen-Berkela“. Schlagartig wandelt sich der Gesichtsausdruck der Frau. „Bitte nehmen Sie doch Platz, Herr Barnstorff. Ich weiß schon Bescheid. Es sind nur noch ein paar Formalien zu klären.“ Sie greift in eine grüne Mappe. „Ich gebe Ihnen den Personalbogen für den Vertrag. Den müssen Sie ausfüllen und unterschreiben. Dann setzen wir den endgültigen Ausbildungsvertrag auf. Für's Erste aber reicht das mir. Haben Sie etwas zu schreiben? Ach nehmen Sie doch meinen Kugelschreiber.“ Angenehm überrascht setzt sich Ronny auf den nebenstehenden Stuhl und beginnt mit dem Ausfüllen des Bogens. Oben war bereits mit Schreibmaschine eingetragen: 'Ronald Barnstorff'. Der Vorname erinnerte ihn an einen entfernten Verwandten aus dem Hort, den er gelegentlich sah. Sein Vater, angesprochen auf den Namensvetter Jürgen, hatte stets nur von „der Blockflöte mit Wendehals“ gesprochen. Ronny ging dessen Sohn seit den Horttagen aus dem Wege. Er füllt weiter die Lücken in dem Fragebogen, unterschreibt mit R. Barnstorff und gibt das Formular zurück. Wohlwollend betrachtet Frau Pritzkoleit den Bogen und erklärt eifrig: „Für Sie geht es am Montag um acht Uhr los. Sie melden sich bei unserem Herrn Klasfeld in der Grubenstraße in Großföhra. Da kennen Sie sich ja aus. Herr Klasfeld wird zunächst Ihr Ausbilder sein. Ich darf Ihnen nun viel Erfolg wünschen. Jetzt gehen wir einmal zu unserem Herrn Doktor, damit Sie unseren obersten Chef gleich kennenlernen.“ Wenig später steht Ronny Herrn Dr. Gericke gegenüber, der ihn kurz mit den Worten: „Willkommen an Bord“, begrüßt. Gegen Nachmittag erreicht Ronny sein Heimatdorf wieder. Im Westen der Röthenberge geht langsam die Sonne unter, aber es scheint ihm als habe sie heute einen besonders warmen Glanz.


Frau Pritzkoleit bekennt freimütig: „Freitag ist Freu-Tag“. Sie ordnet bereits alles zum Wochenende auf ihrem Schreibtisch, als ein junger Mann mit lautem: „Hallo¸ Tach auch“, das Büro betritt. Ärgerlich schaut sie auf. Ein leicht alkoholischer Dunst umweht ihre Nase. „Ich heiße Barnstorff und wollte mich hier melden. Gestern hatte ich dringende Geschäfte und konnte nicht kommen. Sie wissen ja, wie das so ist.“ Frau Pritzkoleit wächst um fünf Zentimeter: „Ich weiß wohl, dass ich seit heute morgen um halb acht hier in diesem Büro bin und jetzt Feierabend habe. Sie sind ein bisschen spät dran.“ Statt einer Entschuldigung begehrt der junge Mann auf: „Ich bin ja nicht zum Spaß hier und es ist ja auch bei Ihnen angerufen worden. Jetzt schau'n Sie mal nach, ob es etwas für mich gibt.“ Die Frau fühlt sich verunsichert. Nur um den unerwünschten Besucher schnell los zu werden, beginnt sie in der Datenbank unter dem Buchstaben 'B' zu suchen. Es dauert nicht lange und sie wird fündig. Merkwürdig, bei Müller oder Schulz hätte sie sich nicht über mehrere gleiche Namen gewundert. Doch jetzt war es wichtiger den Jugendlichen wieder loszuwerden. „Ja, Sie stehen hier drin. Sie müssen sich am Montag um acht hier im Nebengebäude melden. Da sind auch die Schulungsräume. Für Sie ist Herr Unger zuständig.“ „Was, ich hör' wohl nicht recht. Wie soll ich denn um die Uhrzeit hier her kommen?“ Jetzt reicht es Frau Pritzkoleit und ihre Stimme nimmt einen harten unangenehmen Klang an: „Wie wär's denn mit frühem Aufstehen? Zu DDR-Zeiten haben wir um sieben Uhr im Betrieb angefangen, ohne ein Auto.“ Der Besucher zuckt nur die Schultern: „Ist lange vorbei. Zeiten ändern sich eben. Na ja, übernächste Woche ist mein Vater von der Reise zurück. Dann sehen wir weiter.“ Er dreht sich um und verlässt grußlos den Raum.


Verärgert wählt die Sekretärin die Rufnummer der Arbeitsagentur, lässt sich mit der Sachbearbeiterin verbinden und im anschließenden Gespräch fallen Worte wie: „kommt einfach einen Tag später, dann auch noch alkoholisiert und wird frech. Da ahnt man die Fehltage im voraus.“ Als in der Arbeitsagentur der Hörer aufgelegt wird, lautet dort die letzte Dienstanweisung für die endende Woche: „Sperrung der Leistung für Ronny Barnstorff.“


Tepe












unbefugter Aufstieg

Die Grubenstraße führt durch das ehemalige Bergwerksgelände Possenhausens. Eine Halde aus rotem Salzton und Abraum verkündet schon von fern den Bergbau. Doch bei genauerer Betrachtung erkennt Ronny, dass sich Vieles verändert hat. Kein Vergleich mehr zu den Anlagen jener Zeit, als er gelegentlich seinen Vater nach der Schicht abholte. Etliche Gebäude sind verschwunden, öde Brachen, die unkrautbewachsen anscheinend zehn Jahre danach immer noch nicht wieder genutzt werden, wechseln sich mit neuen Zweckbauten ab, die hauptsächlich Kleinunternehmen beherbergen und noch viel freien Raum zur Vermietung anbieten. Am Ende der Straße, kurz vor dem Bahnhof Großföhra, ist ein ehemaliger Verwaltungstrakt übrig geblieben, wo sich die Niederlassung der proVita GmbH befindet.


Gleich nachdem Ronny die frisch getünchten Geschäftsräume betritt, kommt aus einem der Räume ein Mann um die Vierzig, er lächelt und geht ihm entgegen mit den Worten:“ Sie müssen der junge Herr Barnstorff sein. Herzlich willkommen bei uns.“ Der Angesprochene nimmt dankbar die dargebotene Hand und antwortet bescheiden: „Sie dürfen mich ruhig Ronny nennen.“ Es stellt sich heraus, dass dieser freundliche Mann sein zweiter Ausbilder Wolfgang Klasfeld sein wird. Ein kleiner Rundgang durch die Ausbildungswerkstätten endet in einem hellen Büro mit Ausblick auf die Wipper. „Das da ist Ihr Schreibtisch Ronny und ich sitze hier.“ Er deutet auf den Platz am Fenster. „Sobald Sie Fragen haben, können Sie sich direkt an mich wenden. Die Ausbildung für den Bereich EDV übernimmt der Herr Hochfeld, den lernen Sie am Ende der Woche kennen. Der ist sonst in Rostleben.“ So beginnt seine Ausbildung und am Ende der Woche glaubt er bald nichts anderes mehr zuvor getan zu haben. Stolz präsentiert er der Mutter und seinen Kameraden vom Fußballplatz seinen Ausbildungsvertrag, der ihm am Donnerstag feierlich überreicht worden war. Den Bescheid über die Kürzung der Leistungen von der Arbeitsagentur, den seine Mutter erhalten hat, ignoriert er und macht sich noch lustig über dessen bürokratischen Tonfall. Er nennt ein Lehrlingsgehalt sein Eigen und bedarf keiner Bescheide mehr.


Es gehört zu den kleinen Privilegien eines Geschäftsführers, dass er am Montag gegen mittag in seinem Büro eintreffen darf. Der morgendliche Start in der Nähe von Bad Neuenahr beschert ihm eine entspannte Fahrt über weniger stark befahrene Autobahnen und ausgeruht erscheint er stets am Arbeitsplatz. Frau Pritzkoleit schätzt die Abwesenheit des Chefs am Montag, gibt es doch viel über das vergangene Wochenende zu berichten, weshalb das Telefon selten still steht. Doch diesmal hat sie sich getäuscht. Bereits um zehn vor acht schrillt der Apparat und ein unbeherrschter Hauptamtsleiter brüllt sie an. Von Riesensauerei ist die Rede, dass sofort die Gewerbeaufsicht, das Ordnungsamt und die Steuerfahndung vorbei kämen um diese Klitsche umgehend zu schließen, wo der unfähige Doktor sei, ob der sich verleugnen ließe? Die Schimpfkanonade endet durch stimmliche Erschöpfung nach einigen Minuten. Bei der Nennung des Ortes Bad Neuenahr, den der Herr Doktor erst am frühen Montagmorgen verlassen habe, explodiert Hauptamtsleiter Jürgen Barnstorff. Er schreit, mit welchem Recht diese Schießbudenfigur von Geschäftsführer erst mittags anfange zu arbeiten, wo sein Sohn die gesamte Woche hätte um halb sechs Uhr aufstehen müssen, nur um in das dusselige Kaff mit Bus und Bahn zu fahren. Außerdem sei ihm völlig unverständlich, weshalb der Junge die ganze Woche habe feilen müssen, das würden im Büro doch nur die Tippsen mit ihren Fingernägeln tun. Frau Pritzkoleit stammelt lediglich, dass sie dazu leider nichts sagen könne und man auf den Herrn Doktor warten müsse. Dabei fällt ihr ein, dass der Weg zur ehemaligen Kombinatsverwaltung gar nicht so weit ist. Sie entgegnet dem Anrufer, man könne man doch den Weg dahin mit dem Fahrrad in zehn Minuten bewältigen. Das Gebrüll schwillt wieder an und sie beendet das Gespräch mit einem alten Trick aus DDR-Zeiten, indem sie so tut, als sei die Telefonverbindung gestört und legt auf.


Empört berichtet sie dem gegen zwölf Uhr eingetroffenen Geschäftsführer von dem Gespräch. Doktor Gericke schüttelt den Kopf und meint kleinlaut, dass er wohl im Hauptamt anrufen müsse. Nach einer guten Stunde öffnet sich die Tür zum Büro des Chefs und nervös wird gefragt, ob denn die Flasche Cognac noch vorhanden sei. Entgegen seiner Gewohnheit genehmigt sich der Geschäftsführer eine doppelte Ration, ehe er der verstört dreinblickenden Frau Pritzkoleit die Lage erklärt. Hauptamtsleiter Barnstorff hatte in der vergangenen Woche mit mehreren Angehörigen des Kreistages an einer Studienreise teilgenommen. In der Pfalz habe man sich über den Weinanbau belehren lassen, weil im Kreistag die Frage erörtert worden war, ob nicht durch gezielten Weinanbau an den Hängen der Wipper einige neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Wegen der Abwesenheit des Vaters habe der Junge eine feuchtfröhliche Party gegeben, die es ihm unmöglich machte, pünktlich an jenem Donnerstag zu erscheinen. Ein unfreundlicher Vorzimmerdrachen, so der Hauptamtsleiter, habe seinem Sohn beschieden, dass er am Montag seinen Arbeitsplatz in der Qualifizierung für sozial und psychisch benachteiligte Jugendliche aufnehmen solle. In Wirklichkeit sei der von der Arbeitsagentur zugewiesene Teilnehmer an dieser Maßnahme mit einem Ausbildungsvertrag versehen worden und arbeite derzeit in der Niederlassung Großföhra. Genaueres könne sie morgen der Presse entnehmen, denn Herr Barnstorff habe es sich nicht nehmen lassen den Vorfall dem Lokalredakteur brühwarm zu berichten.


Ronny bemerkt eine fremdartige Atmosphäre bei dem Betreten der Büroräume der proVita GmbH. Mit lauernden Blicken verfolgt man jede seiner Handlungen und die Gespräche mit ihm beschränken sich auf das Nötigste. Er versucht dem wenig Beachtung zu schenken, doch die Beklommenheit in ihm wächst. Als er am Abend in den Eichenweg einbiegt, wartet anscheinend die Nachbarin, eine gefürchtete Tratschtante, bereits auf ihn. „Na, du Hauptmann von Köpenick, da haste dir ja was eingebrockt.“ Ronny murmelt Unverständnis. Sie winkt mit dem Lokalteil der Zeitung. Fette Lettern verkünden dort: „Jugendlicher erschlich sich Ausbildungsplatz“. Wie er sich unter Vorspiegelung der Sohn eines hohen Verwaltungsbeamten zu sein, das Vertrauen gutwilliger Unternehmensberater erschlichen habe, die unverdrossen und nimmermüde am Aufschwung Ost mithelfen und er einen Ausbildungsplatz erbeutete, obwohl er dazu überhaupt keine Qualifikation besaß. Von Hochstapelei war die Rede und wie übel dem wirklichen Aspiranten mitgespielt worden sei. Ronny wird schwindlig. Einmal hatte er eine Chance gesehen und sie ergriffen, nicht immer andere für sich handeln zu lassen und nun steht er als Betrüger da. Wortlos verschwindet er im Wohnhaus.


Dr, Gericke wird nach Berlin zitiert. In einer langen Sitzung tritt unvermittelt ein Herr Kleinschmidt auf, der als Berater für die „Stiftung Aufbauwerk Ost“ vorgestellt wird. Mit dürren Worten schildert er die jüngere Geschichte der Familie Barnstorff. Ein gemeinsamer Urgroßvater war für die zwei Linien verantwortlich. Jürgen Barnstorff und sein entfernt verwandter Cousin Dietmar Barnstorff hatten beide ihren Armeedienst bei den Grenztruppen absolviert. Der Eine beendete seine Dienstzeit als Offizier, während der andere durch zahlreiche Disziplinverstöße als einfacher Mannschaftsdienstgrad entlassen wurde. Herr Kleinschmidt resümiert: „Wir können mit Fug und Recht annehmen, dass der einfache Soldat schikaniert, gedemütigt und unrechtmäßig verfolgt wurde. Er repräsentiert den klassischen Bürgerrechtler. Unbequem und unbestechlich, so wie uns heute der Herr Jürgen Barnstorff täglich im Amt begegnet. Dagegen muss bei Leutnant Barnstorff unterstellt werden, dass es der IM „Diethelm“ ist, jener Dietmar, der viele Bürger der Stadt als „Altstalinisten“ denunziert hat und auch noch nach der Wende großen Schaden in den Familien durch gezielte Indiskretionen anrichtete. Anschließend habe er sich wohl nach dem Westen abgesetzt. Diese Erkenntnisse dürften ausreichen eine außerordentliche Kündigung gegen Ronny Barnstorff auszusprechen und ihm ein sofortiges Hausverbot zu erteilen. Das hat vor jedem Arbeitsgericht Bestand, wie unser Hausjurist herausfand.“ Beifällig klopfen die Besprechungsteilnehmer auf den Tisch und Dr. Gericke fällt ein Stein vom Herzen. Er ruft erfreut: „Sofort werde ich eine Pressemitteilung veranlassen.“


Der Junge wird aufgerufen, wenig später sitzt er in dem Amtszimmer. Die Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur schaut Ronny angewidert an: „Es gibt Kunden, die ich gern wiedersehe. Sie gehören nicht dazu. Aber, ich habe trotzdem etwas für Sie. Die „Topsauber Limited und Co. KG“ sucht Direktverkäufer für ihre Reinigungs- und Pflegeprodukte. Wie Sie sich persönliche Vorteile ergaunern, ist Ihnen ja bestens bekannt. Da dürfen Sie das zum Wohle ihres neuen Arbeitgebers tun. So eine Chance kriegen Sie nie wieder. Es gibt tägliche Auszahlung. Da wird Ihnen ja die Leistungskürzung nicht mehr weh tun.“



   





Bilderverzeichnis:

  1. Sondershausen-Stockhausen, Kirche St. Matthias

  2. Straße nach Greußen

  3. Wintertag zwischen Berka und Sondershausen-Jecha
  4. Sondershausen-Großfurra, ehem. Hauptwerkstatt des Kali Bergwerks „Glück Auf“

  5. Unbefugter Aufstieg verboten!“, Brückenkran, ehem. Hauptwerkstatt, ebenda

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