Oberharzer Heimatabend





Wie jeden Monat in der Kursaison lädt auch an diesem Tag die Kurverwaltung der Bergstadt zu einem der berühmten Heimatabende ein. Das Ehepaar Klabinski, das aus Berlin - Tempelhof angereist ist, freut sich seit zwei Tagen auf das schöne Konzert. „Nicht immer diese olle Negermusik”, hört man Herrn Klabinski sagen, „sondern mal was für das Gemüt!” Sie haben in der zweiten Reihe vor der Konzertmuschel Platz genommen.

Währenddessen hat sich Friedhelm Klappka, auch bekannt als der „Straube” seinen blauen Fuhrmannsanzug angezogen und schwenkt wagemutig seine Peitsche. Dabei räumt er in der „guten Stube” die Blumenvase ab, welche auf dem Wohnzimmertisch stand.


Das hat zur Folge, dass die Katze, die auf dem Kissen in der Fensterbank schlief, senkrecht in die Höhe schießt und bei der anschließenden Flucht den Gummibaum umstößt, dessen Erde über das Kissen zerstreut wird. Das interessiert den Friedhelm nicht. Heute abend gibt es draußen nichts zu beobachten und am nächsten Morgen kann seine Frau für Ordnung sorgen. Sie liebt diesen Platz besonders, weil man so bequem die Straße einsehen kann. Vor allem, um bei den Flumes nachzuschauen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Das sind nämlich „Solche...” mehr braucht man da nicht zu sagen. Der "Straube" verlässt das Haus am abgebrannten Sägewerk, das angeblich der Pfoschten, auch bekannt als „die Klobürste”, in einer Winternacht angezündet haben soll und geht gemächlich zum Kurpark. Dort werden schon die Plätze knapp. Der Kurdirektor Fuchs klopft ans Mikrofon und nach dreimaligem Räuspern beginnt er mit der Begrüßung. Er würdigt die „singenden Köhler“ mit seinen berühmten Peitschenknallern, den Männergesangsverein „Harmonie von 1896", die Blaskapelle „Kellwasser-Musikanten” und das Komikertrio „die Okermolche”.

Das wird ein unvergesslicher Abend”, raunt Herr Klabinski seiner Frau zu. In der Tat beginnen die „singenden Köhler“ mit dem schönen Heimatlied:



Wenn der Fuhrmann mit der Peitsche knallt,

dann steh ich ganz allein im Wald.

Holladihö, hollajuchee!

Wanderer, geh’ ganz schnell nach Haus’,

denn Gemütlichkeit guckt zum Fenster raus!

Jidödelholladi, duhödeljolladi!

Wo die Hausfrau Ordnung schafft,

gibt dem Oberharzer neue Kraft.

Holladihö, hollajuchee!



Den Vögeln geht es auch so gut,

weil der Mann sich drum bekümmern tut.

Holladihö, hollajuchee!

Macht er mit den Vögeln Wettbewerb,

gewinnt, wessen Gesang zuletzt ersterb’

Jidödelholladi, duhödeljolladi!

Und das war sein Pi-hiepmatz,

ein ganz besonderer Schatz

Holladihö, hollajuchee!


Dann hat sich doch die Müh’ gelohnt,

denn zu Hause hat’s sich schwer gewohnt.

Holladihö, hollajuchee!

Der gute Nachbar mit dem Pflanzengift,

hat heimlich in den Bauer geschifft.

Jidödelholladi, duhödeljolladi!

Da starben die besten Buchfinken,

es tat unsäglich stinken.

Holladihö, hollajuchee!


Der Nachbar, der ist ja so schlecht

darum wird der Finkenhahn gerächt.

Holladihö, hollajuchee!

Die Sonn' geht auf, leer ist der Schrank

das Gewehr macht einen Spaziergang.

Jidödelholladi, duhödeljolladi!

Ein guter Schuss zur rechten Zeit,

Nachbar’s Dackel streckt die Beine breit!

Holladihö, hollajuchee!


Dazu wird zum Schunkeln animiert. Die Sänger kippen je nach Reihe versetzt im Gegentakt, was an einen Betriebsausflug nach einer Weinkellerbesichtigung erinnert. Der "Straube" knallt mit seiner Peitsche im Walzertakt und die Blaskapelle unterstützt mit Paukenschlagen das stimmungsvolle „Hummtata”. Die Zuhörer bilden eine verschworene Gemeinschaft. Keiner, der nicht untergehakt den Gleichgewichtsstörungen folgt.
Danach tritt der Männergesangsverein auf. Er singt: „Brüder über dem Sternenzelt muss ein guter Vater wohnen...” Das können sie auswendig und singen es auf jeder Beerdigung. Große Ergriffenheit macht sich bei den Zuschauern breit. Nach einem Marschpotpourri der Kellwassermusikanten, wo die Konzertbesucher begeistert mitklatschen, folgt nun eine heitere Einlage der Okermolche. Riesenlacher erzielt der muntere Scherz:
„Wie lauten die türkischen Feiertage?” “Ramadan, Sperrmüll und Altkleidersammlung” Da kommt plötzlich aus dem Gebüsch Gerry Dunkel angetorkelt, der nach seinem Feierabend auf der Hütte noch einen kleinen Nachtrunk genommen hatte. Sein Magen rebelliert noch etwas und er beschlieBt, sich erst einmal ausgiebig in den Papierkorb am Rande der Konzertmuschel zu übergeben. Dies geht leider nicht geräuschlos vonstatten. Der Vortrag des zarten Liebesgedichtes des Harzer Heimatdichters Oskar Pisch leidet unter leichten akustischen Beeinträchtigungen. Kaum erklingt die beliebte Textzeile:


Oh! Du geliebte Harzer Grasnelke,

wenn ich Dich nicht pflücke,

ich vor Leidenschaft welke

Denk’ an Deine Stängelstücke

komm zu mir in die Vase - und entrücke

mich der grauen Gegenwart

das wahre Leben ist so hart.


Bei der Stelle „Stängelstücke” kommt bei Gerry Dunkel die zweite Welle des Mageninhalts. Eigentlich hatte er leer sein sollen, aber Gerry hatte den Geburtstag des Vorarbeiters mit Mettbrötchen begangen. Schließlich wollte er ja nicht auf ewig Schlacke vom Boden kratzen. Die Männer an den Zinköfen werden besser bezahlt, ist zwar heiße Arbeit, aber gibt viel mehr Geld, den sein Bierdecke! im Harzer "Fuhrmannsstübchen" gut gebrauchen könnte. Der Vorarbeiter hatte ihm nach dem dritten Korn versprochen, sich für den treuen Gerry einzusetzen. Deshalb haut jetzt der Getreue, beschwingt torkelnd, dem Friedhelm auf die Schulter und grölt ein „Auf Friedhelm! Auch schöne Grüße an die Kurgäste der Bergstadt!” während er schlingernd den Heimatkurs zu seiner Wohnung in der Hauptstraße antritt.

In der Zwischenzeit hat der Leiter des Männergesangsvereins, Bernhard Großbuhr, seine „Hohner melodica” hervorgeholt und bläst den Mannern die Töne. „Aah”, tönt es von vielen Seiten. Der Pfoschten tritt in tadelloser Feuerwehr-Montur hervor und entzündet fachmännisch einen Scheiterhaufen - da wird später eine Hexe verbrannt mit dem Walpurgislied. Doch zunachst stimmt der Männergesangsverein das alte Volkslied „Flamme empor!” an. Gerry Dunkel hört das nur noch im Hintergrund.

Das Rauschen der Oker übertönt die fröhliche Stimmung aus dem Kurpark. Zu Hause angekommen hat seine polnische Lebensgefährtin Franziska Meljarkowska dem Gerry Milchreis vorgesetzt. Da ihm aber der Zimt fehlt, schließlich hatte er bei seiner Familie Dunkel eine gute deutsche Küche genossen, wie sie in Czernowitz Brauch war, da würzt er nach. Wozu steht denn wohl die Streubüchse auf Esstisch? Im stillen ärgert er sich doch über die Kochkünste seiner "Ehegattin“. Leise flucht er vor sich hin: “die Pollacken können nicht richtig kochen...” Doch er kennt seine Frau und weiß, dass sie sehr grantig werden kann, wenn er am meckern ist. Darum unterdrückt er seinen Groll und isst tapfer den Milchreis auf. Kaum, dass er geendet hat, geht die Tür auf und Frau Meljarkowska erscheint. “Haste mal wieder gut getankt, wie? Ich muss zahlen nächste Rate von Kühlschrank, was sich ist kaputt. Ich habe gesprochen mit Chef von Elektrogeschäft. Bin extra nach Heinrichsthal gefahren. Ich ihm gedroht, mit nicht bezahlen von nächste Rate und Du? Mal wieder versaufen nächste Rate!” Gerry Dunkel weiß, was nun folgen wird. Er versucht, Herr der Lage zu werden. „Franziska”, sagt er, „Du willst eine gute Hausfrau sein? Rate hin oder her - aber ein Hausvater, der unterernährt ist, kann Dir auch kein Geld geben. Ich musste erst den faden Milchreis nachwürzen, damit er einigermaßen bekömmlich ist. Wer im Glashaus sitzt...” Sie unterbricht ihn: „Wer in der Kneipe säuft, soll nicht mit Bierdeckeln werfen, ist es denn noch möglich? Wie hast Du nachgewürzt?” Gerry erhebt sich schwer vom Stuhl. Die zahlreichen Pilse und Kurzen, nach Schichtende, machen ihm schon zu schaffen. “Wenn ich nicht die Würze hier zum Milchreis auf dem Tisch gehabt hätte, wäre das ein Schlangenfraß. Du kannst ja nicht mal Milchreis kochen, Du Schlampe!” Frau Meljarkowska schreit auf: „Das ist keine Würze, das ist doch das Rattengift! Du bist ja so besoffen, dass Du nicht mal die Etikette lesen kannst. Ist sich das eine Schande!” So kommt es, dass Gerry Dunkel mit einem Taxi in das Carlo-Brat-Hospital in Heinrichsthal gefahren wird. Dort pumpt man ihm den Magen aus. Wegen seiner guten Überlebenschancen nimmt man davon Abstand, ihn zu einem klinischen Aufenthalt zu überreden. In der berühmten Kneipe „Roemer-Ecke” wird er erst mal einen Trunk zu sich nehmen, um seine Magenwände zu beruhigen. Den Heimweg tritt er zu Fuß an.

In diesem Augenblick beenden die „singenden Köhler" das Kufsteinlied und nehmen die “standing ovations” der Zuschauer entgegen. Friedhelm Klappka knallt nochmals mit der Peitsche und handelt sich einige zusätzliche Klatscher ein. Herr Klabinski ruft seiner begeistert applaudierenden Frau zu: „Das ist doch endlich mal was. Keine Langhaarigen, die bei den ‘rolling stones’ unsere schöne Waldbühne auf dem ‘Reichssportfeld’ zu Kleinholz machen. Mal, so richtige Volkskultur erleben - wie lange habe ich das schon vermisst!” Frau Klabinski klatscht und lächelt: „Ja, Du hast ja so recht, aber mir fällt gerade ein - wann wolltest Du eigentlich zum Friseur gehen? Dein Haarkranz zeigt vereinzelte Fransen.” In diesem Moment kommt der Onkel von Friedhelm Klappka angeschwankt, er trägt eine Schirmmütze auf dem Kopf, die etwas verwegen schief sitzt, und er schlingert auf Herrn Klabinski zu. Der Onkel trägt den Spitznamen “Jachter-Heinrich’, weil die Familie Klappka einen gewissen literarischen Ruhm erlangt hat. Der berühmte Kunstmaler und Heimatfreund August Schreinecker hatte dem Vater von Heinrich ein Denkmal gesetzt. Jener Vater einer vielköpfigen Familie traf sich auf einem seiner geliebten Waldspaziergänge des abends mit dem Förster - doch dieses Mal war es der Hüter und Pfleger des Waldes, der schneller schoss und traf. So kam es, dass “Jachter-Heinrich” zwar ein Halbwaise wurde, aber immerhin der Nachwelt erhalten blieb. Herr Klabinski beachtet den neben ihm stehenden Heinrich nicht und seufzt: „Wo gibt es denn noch so eine erdverbundene Liebe zur heimatlichen Scholle! Das habe ich doch nur auf dem Fähnleinführer-Treffen in Nürnberg erlebt, wo ich Dich kennenlernte und wo wir IHM ins Auge blicken durften.“ Den Jachter-Heinrich stört das nicht und er fragt Herrn Klabinski: „Haste mal ne Zarette?” Da schüttelt Herr Klabinski angewidert den Kopf. Schließlich raucht er seit Jahrzehnten nur Havanna Zigarren der Sorte "Bahnhofstoilette Schöneberg“, sehr zum Ärger seiner Ehefrau auch im Wohnzimmer. Das beeindruckt den Jachter-Heinrich nicht, denn er antwortet ungerührt: „Na, denn nicht, dann raach ich meine Eigenen.” Plötzlich verspürt er einen starken inneren Drang, geht unsicheren Schrittes zum Scheiterhaufen, aus dem erste Flammen züngeln und ruft laut:’Vater war aach Feuerwehrmann. Vor seinem graasamen Tod hat er all gesaacht ‘Wu es brennt, muss all gelöscht werden.’ Das war ‘ne Lehre fir mich!” Mit einem kräftigen Strahl strullt er in das Feuer, leichte Dampfwolken steigen auf, die Flammen sind erloschen.

Der Kurdirektor bekommt sein nervöses Augenlidzucken und entschließt sich, das Programm abzuändern. Er flüstert mit dem Dirigent der „Kellwassermusikanten" Der jedoch schüttelt bedenklich seinen Kopf, auf dem ein Pinselhut thront, es ist die Zierde der neuen Tracht der „Kellwassermusikanten”. Sie haben diese fesche Tracht bei einem Fabrikanten in Oberbayern gekauft. Der erste Vorsitzende, Jaroslaw Hajek, bestand darauf, weil Heimatverbundenheit gerade durch eine urwüchsige über Jahrhunderte gepflegte Tradition am besten durch die Volkstracht ausgedrückt wird. Bei der Erinnerung an seine Vertreibung aus den Sudeten standen dem 50jährigen die Tränen in den Augen. So erfreuen sich die Musiker seit zwei Jahren eines neuen Gewandes. Diese hören jetzt jedoch dem Dirigenten zu, der sie zu einem anderen Musikstück überreden will. Nach einigem Murren werden neue Noten ausgegeben. Der Kurdirektor überbrückt die Zeitspanne mit der launigen Bemerkung über die Schönheit der Landschaft des Harzes. „Kennen Sie die Jahreszeiten im Oberharz? Wir haben 8 Monate Winter und 4 Monate keinen Sommer.” Er erntet nur spärliche Lacher. Dagegen ist der Zwischenruf von Herrn Klabinski unüberhörbar. Er fällt geradezu in eine meditative Pause. „Dafür haben Sie aber eine saftige Kurtaxe! In Berlin gibt es sowas nicht.” „Arthur”, zischt seine Frau, „kannst Du nicht einmal das liebe Geld vergessen? Hier gibt es doch Kunst.” Jetzt ist Herr Klabinski gereizt und flüstert erregt ihr zu: „Haben wir vielleicht in Thumsenreuth Kurtaxe bezahlt? Die waren doch froh, dass da überhaupt Gäste kommen. Blasmusik hattest Du da auch reichlich.” Frau Klabinski ist die Situation peinlich, deshalb sagt sie auch nichts, als nach vollendetem Geschäft Jachter-Heinrich wieder auf ihre Plätze zusteuert. Ihr ist unwohl, aber sie denkt, bloß nicht noch mehr Ärger hervorrufen.

Indessen sind die Noten nochmals ausgetauscht. Der Kurdirektor tritt sichtlich nervös an das Mikrofon: „Sie sind ein wundervolles Publikum. Wir haben heute einige der treuesten Gäste unter uns. Es sind die durch die deutsche Geschichte hart geprüften Landsleute - die Berliner. Deshalb möchten wir sie extra herzlich musikalisch begrüßen. Bekanntlich hat ja unsere Bergstadt sehr gute Beziehungen zu dem herrlichen Stadtbezirk Neukölln. Unser Seniorenkreis wird sich sicherlich gern an die schöne Reise in die Millionenstadt erinnern. Pastor Schmalztorf zeigte Ihnen seine Kirche, wo er als Konfirmand den ersten Segen empfing, die Rolltreppen des Kaufhauses Wertheim bestaunten nicht wenige unserer Mitbürger. Darum hören Sie als kleines “danke schön’ die Harzer Version des weltbekannten „Sportpalastwalzers". Es spielen die „Kellwassermusikanten”, die „singenden Köhler“ geben den rechten Pfiff dazu und unsere berühmten Peitschenknaller werden rhythmisch Sie in diese fröhliche Musik einstimmen. Arthur Klabinski möchte am liebsten aufspringen, noch bevor der Dirigent den Taktstock hebt, meint er: „Toll! Jetzt fehlt eigentlich nur noch ‘Krücke’, dann ist alles wie zu Hause.” Seine Frau schüttelt den Kopf: „Dieses Berliner Original ist doch schon seit Jahren tot.” Das hört Heinrich, der die Hoffnung auf eine Zigarette noch nicht aufgegeben hat und haut Herrn Klabinski auf die Schulter: „Gibste mich ‘ne Zarette, dann hole ich Dich all ‘ne Krücke!” Herr Klabinski ist peinlich berührt, doch die Augen seiner Frau sagen ihm, dass zum Einem die Musik begonnen hat, zum Anderen es besser wäre, zu schweigen. Erstaunlich behände, trotz eines beträchtlichen Alkohol-Pegels, geht Heinrich zu einem älteren, einbeinigen Herren, der am Rande der vierten Reihe sitzt und seine Gehhilfen an den Rand der Sitzbank gestellt hat. Obwohl der Kurpark dicht besetzt ist, hat kein Besucher sich getraut, den Rest der Bank für sich in Anspruch zu nehmen. Die “Kellwassermusikanten” stoßen ins Horn, sie geben ihr Bestes - da schnappt sich Heinrich eine Krücke und schreit: „Kriegste gleich wieder, oder haste ne Zarette?” Der ältere Herr antwortet: „Ich bin Nichtraucher.” Das stört aber Jachter-Heinrich nicht besonders. Er antwortet souverän: “Na denn nicht, dann musste all warten.“ Er schreitet zu Herrn Klabinski und stampft mit der Gehhilfe den Rhythmus in den Kies. „Ratatatata-zong“, die Peitschen knallen und die singenden Köhler pfeifen, was die Lunge hergibt.

In dem Hauptgang, zwischen den Bankreihen, begegnet ihm die “Tiefbau-Gerda". Während der kleinen Programmänderung hatte Friedhelm gebeten, ob sie nicht seinen Onkel nach Hause bringen könne. Gerda wohnt in der Nachbar-Baracke von Heinrich und empfängt ihn mit offenen Armen. “Heinrich, mein Mann lässt Dich fragen, ob Du mit ihm nicht einmal sein Geburtstagsgeschenk die neue Flasche „Allstedter Goldbrand“ probieren möchtest?” Heinrich wird würdevoll. Er wirft die Krücke in das nächste Blumenbeet und antwortet ganz Herr der Lage: „Gerda, du weißt, ich bin harter Gegner des Alkohols. Wo auch immer ich ihn treffe - ich vernichte ihn auf der Stelle!” Auf diesen originellen Scherz ist er besonders stolz, weil er ihn mindestens dreimal pro Woche seinen Kollegen erzählt. Sein Körper strafft sich, ganz Gentleman bietet er seinen Arm an um „Tiefbau-Gerda“ beim Gehen zu stützen. So verlassen sie in aufrechter Haltung den Kurpark.

Pfoschten kennt das Programm in- und auswendig. Nachdem er den Scheiterhaufen entzündet hat, bleibt ihm noch eine Dreiviertelstunde, um dann die Stoffhexe auf die brennenden Holzkloben zu setzen und während des Feuerwerks verbrennen zu lassen. Darum geht er in der Zwischenzeit in das „Fuhrmannstübchen“ um ein wenig zu quatschen. Die zweite Herrenmannschaft hat ein Fußballspiel verloren, aber weniger als zwei rote Karten kassiert, darum muss das auch gefeiert werden. Etliche Runden „Lautenthaler Hüttenfeuer“ brennen in seinem Magen. Da schaut er auf die Uhr. Es ist höchste Eisenbahn. Außerdem braucht er mit Hinweis auf den Heimatabend, keine Runde auf seine Kosten auszugeben. Mit einem Mal stehen ihm die ohnehin nach oben aufgerichteten Haare nun lotrecht zu seiner Schädeldecke. Unglaublich, das Feuer ist erloschen. Die Gedanken überschlagen sich in seinem Gehirn. Welche Schande, ihm als eifrigster Feuerwehrmann, gleich nach Peter Posse - würde man ihm in Zukunft noch zutrauen, ein ordentliches Feuer zu legen? Das kann er nicht auf sich sitzen lassen. Darum läuft er schnell zu der Garage seines Vaters, um sich von dort den Reservekanister für den Rasenmäher zu besorgen. Im Kurpark schunkeln Hunderte begeistert zu: „Ja, den Schnee-Schnee-Schnee- Schneewalzer tanzen wir...” Pfoschten schleicht sich von der Hügelstraße an die Konzertmuschel an. Dort haben seit Jahren die Feuerwerker die Raketen und den Höhepunkt der Veranstaltung: den Piskerhaller Wasserfall, aus Feuerwerkskörpern, aufgebaut. Keiner stört ihn, als er den Inhalt des Benzinkanisters gleichmäßig über das Feuerwerk ausgießt, weil die Fachleute auch das ganze Programm auswendig kennen und sich lieber über den Klassenerhalt des 1. FC Nordharingen in der Bezirksliga unterhalten. Der Kurdirektor übergibt das Wort sehr förmlich an die Schriftführerin der „singenden Köhler“, Christine Strunz. In ihrem feschen Dirndl verkündet sie munter: „Jetzt singen wir mal Alle gemeinsam. Wer sich drückt, kriegt morgen kein Frühstück. Denn wir haben ja noch ein schönes Feuerwerk zu betrachten. Selbst der Ministerpräsident von Niedersachsen hat mit seiner Familie eine ganz erfolgreiche Schallplatte aufgenommen. Vielleicht erinnern Sie sich noch. ‘Wem Gott will rechte Gunst erweisen...’. Sie können die Platte am Ausgang noch käuflich erwerben. Der Erlös kommt der “Albrecht-Thale Stiftung” zugute. Damit sollen die Gerichtskosten für die zahlreichen Prozesse bezahlt werden, die unser verdienstvoller Landesvater nun durchleben muss, weil er die völlig überflüssigen Erholungsheime der Gießerei Thale gewinnbringend veräußern wollte. Schließlich hatte er ja ein wahnsinnig hohes unternehmerisches Risiko übernommen, als er für eine einzige D-Mark das marode Unternehmen von der Kabinettskollegin, die ihre Karriere bei der Treuhand krönte, rechtmäßig erwarb. Sie haben heute so begeistert geklatscht. Wir haben unser Bestes gegeben, und Ihr Beifall ehrt uns. Darum bitten wir auch unsere Losung zu unterstützen: „Leistung muss sich lohnen! Es muss auch immer eine Elite geben - wir messen uns auch jährlich mit anderen Harzer Vereinen im Jodelwettbewerb. Darum überlegen Sie sich bitte, ob eine so schöne Schallplatte nicht auch Ihr trautes Heim bereichern könnte. Frenetischer Beifall krönt die so schlicht aber doch angreifend gesprochenen Worte. Die „Kellwassermusikanten” intonieren das altbekannte Volkslied. Kaum ein Auge, das trocken bleibt. Hingebungsvoll erschallt: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er hinaus in die weite Welt.” Dem Pfoschten hat die Ansprache nicht gefallen. Erstens weiß er, dass bei jedem Heimatabend für die Schallplatte geworben wird, zweitens muss er das Feuerwerk früher losgehen lassen, um für sich und seine Kameraden deutlich zu machen, dass immer noch das Motto gilt: “Feuerwehr - Retten – Löschen - Bergen.” Die Intonation des Liedes ist ihm hochwillkommen. Er reißt einen Goldregen, der noch von Silvester übrig geblieben war, an einer Streichholzschachtel an und wirft den Feuerwerkskörper auf seine Benzinspur. Bevor ein Angestellter der Feuerwerksfirma reagieren kann, zischen Böller und Raketen in wilder Reihenfolge in den Himmel. Erste Panik macht sich breit, Schreie ertönen. Der Piskerhaller Wasserfall entzündet sich zu früh, aber die ernstlich Verwundeten werden im “Carlo-Brat-Hospital’, nach halbstündigem Eintreffen des Krankenwagens und der fast ebenso langen Fahrt nach Heinrichsthal, akkurat behandelt. Auf diese Darstellung in der Lokalpresse legt der Samtgemeindedirektor, Dr. Michael Eiche, äußersten Wert. Das wird auch detailliert von der Redakteurin der „Öffentlichen Nachrichten“ Hildegard Müller-Sanchez, einschließlich eines mit Herzblut geschriebenen Kommentars wiedergegeben. In derselben Zeitungsausgabe werden Pfoschten und Peter Posse als „Männer der ersten Minuten“ in ihren angesengten Feuerwehrs-Uniformen abgelichtet. Sechs Monate später erfahren sie besondere Ehrungen durch den Kreisbrandmeister, anlässlich der Jahreshauptversammlung der freiwilligen Feuerwehren des Kreises.

Ein Jahr jedoch, nach diesem unvergesslichen Heimatabend, beschließt das Ehepaar Klabinski doch lieber nach Thumsenreuth zu fahren. Da gibt es keine Kurtaxe und die Verletzungsgefahr besteht höchstens in einem Wespenstich bei dem gemeinschaftlichen Brombeeren sammeln. Hin und wieder traut sich Herr Klabinski zu nörgeln: “Na ja, so wie bei uns in Tempelhof ist es ja nicht. Aber im Oberharz haben die sich wenigstens was von uns angenommen - die lernen hier vielleicht auch noch etwas dazu!”