der Genosse des Jahres 1951


Teil 1 der Trilogie  "Fluchtskizzen"


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Im Leipziger Ortsteil Markkleeberg befindet sich die Bürgerstraße. Die Miethäuser, um 1900 errichtet, sind weitgehend von den Bombenangriffen verschont worden. Im Treppenhaus der Bürgerstraße Nummer 8 befinden sich zwei Mieter im Gespräch. Frau Maria Marwinek übermittelt dem Fräulein von Astenbeck den Inhalt eines soeben belauschten Gespräches zwischen den Eheleuten Wilbarth. Die Wilbarths leben in der obersten Etage des durch den Krieg nur leicht beschädigten Hauses zur Untermiete. Frau Marwinek hat ihr großes Wohnzimmer zur Verfügung gestellt, weil das junge Paar seit ein paar Wochen einen Sohn bekommen hat. So wurde sie zur Ohrenzeugin dieser Auseinandersetzung


Fräulein Astenbeck, da ist was im Gange, ich darf es eigentlich nicht sagen, aber die Frau Wilbarth hat mit ihrem Siegfried herumgestritten. Er ist erwischt worden, wie er sich heimlich mit einer Waltraudt getroffen hat. Die Frau Wilbarth hat es durch eine Nachbarin vom alten Wilbarth erfahren.“ „Was sie nicht sagen, das ist doch der Ingenieur, der hin und wieder zu Besuch kommt. Netter Herr, aber der soll ja gesessen haben. Der wohnte doch in Böhlitz-Ehrenberg in der Pestalozzistr. Das Haus ist bei dem Angriff auf die Flugzeugfabrik runtergekommen. Meine Nichte wohnt doch dort.“ Frau Marwinek nickt freudig:“ Darum hat er auch gesagt, er will da nach dem Rechten sehen, ob die Wohnung nicht doch wieder in Schuss gebracht werden kann. Aber stattdessen hat er sich mit dieser Waltraudt getroffen. Das war gar nicht einfach rauszukriegen, wer diese Person ist. Aber, ich weiß es doch!“ Fräulein von Astenbeck hüstelt und schaut nach oben. Frau Marwinek hält ihren Besen kerzengerade, als Verena Wilbarth die Stufen herunter kommt und mit einem knappen „Morgen“ an den Frauen vorbei geht. Fräulein von Astenbeck fasst sich ein Herz:“Ich habe gesehen, dass ihr Schwiegervater heute zu Besuch war. Wie geht es ihm denn? Das ist ja nicht so leicht draußen in dem Behelfsheim in Probstheida. Vielleicht kann er bald wieder zurück nach Böhlitz-Ehrenberg.“ Frau Wilbarth schüttelt den Kopf: „Nein da wird nichts draus. Die Wohnung ist zu groß, wo er doch gerade geschieden ist und seine Neue sieht nicht danach aus, als ob sie Beziehungen hat zum Wohnungsamt. Aber falls es Sie interessiert, warum er hier war, was ich Ihnen an der Nasenspitze ansehe – er wollte meinem Mann Nachricht geben. Geht mal wieder um die hohe Politik. Schönen Tach noch.“ Die beiden alten Frauen blieben zurück und Frau Marwinek setzte wieder ein wissendes Lächeln auf. „Der Siegfried arbeitet doch in der Gießerei Meier und Weichelt, was jetzt ein VEB ist und mein Mann hat einen Vereinskameraden, der ist auch in der Gießerei und kennt den Siegfried. Die Waltraudt ist eine ganz heiße Kriegerwitwe aus der Buchhaltung und der Siegfried immer um sie rum. Kein Wunder, wo jetzt seine Frau Mutter ist, dass der sich nach was anderem umschaut.“ Fräulein von Astenbeck schüttelt den Kopf: „Immer diese Politik, das gab es früher nicht und die Zeiten waren besser, wenn ich an unser Gutshaus denke.“ Frau Marwinek lacht: „Na davon können sie wohl nicht lassen, dabei trinken Sie doch gar keinen Schnaps. Ist ja nun vorbei. Die Beiden haben dann etwas leiser gesprochen und plötzlich fing der Siegfried zu schimpfen an. 'Mich kriegste nicht nach Wiehe zu deinem Wirtshausvater und in den Bergbau gehe ich schon gar nicht.' Ich will ein ordentlicher Diplomingenieur werden. Die Waltraudt hat das begriffen und wenn du es genau wissen willst, ich habe ihr beim Holzhacken geholfen, weil sie allein ist und ihr Mann auch bei der Marine war. Dann hat sie zurück gekeift, dass er ja wie seine Mutter wäre, immer nach oben hinaus und was besseres sein wolle und außerdem könnte er sich ja mal mit den Genossen besprechen, ob nicht eine andere Wohnung möglich ist. Stellen Sie sich vor, die haben richtig Krach gehabt. Na, für mich wäre es besser, denn mein Otto kommt hoffentlich bald zurück. Sie brauchen ihn noch hieß es, als er mir neulich schrieb.“ „Wissen Sie denn, was er da macht?“ Frau Marwinek schüttelt den Kopf. „Ist geheim, sagt jedenfalls das Amt. Er ist ja als Kommunist immer auf der Seite der Russen gewesen. Es soll ihm aber gut dort gehen.“ „Ach ja, wenn der Krieg nicht gewesen wäre...“ „Pst, sagen Sie das nicht so laut, wenn das jemand hört.“


Lautlos gehen die beiden Frauen auseinander, denn Verena Hilbarth kommt aus dem Keller mit einer Trage Kohlen zurück. Von den Frauen nimmt sie keine Notiz. Gegen sieben Uhr abends hört Fräulein von Astenbeck eilige Schritte im Treppenhaus, kurz danach wird die Haustür geöffnet und die schlanke Gestalt eines Mannes läuft eilig in Richtung der Bornaischen Straße, die seit neuestem Fritz-Austel-Straße heißt. „Das war doch der Siegfried“, murmelt das ältliche Fräulein. „Ach ja, der geht da zur Parteiversammlung, das hat ja seine Frau heute gesagt“, spricht sie zu sich selbst.


Folgt man der Fritz-Austel-Straße weiter stadteinwärts, so stand um die Jahrhundertwende an ihrer linken Seite ein Wäldchen und diente als Erholungsgebiet. Gegenüber liegt ein Gasthof. Deshalb erhielt er den Namen „zum heiteren Blick“, ein Gebäude mit historisierendem Fachwerk, was um die Jahrhundertwende als ausgesprochen schick galt. Der Schankraum befindet sich im Erdgeschoss, dort treffen sich auch gern die Angehörigen von Siegfrieds Brigade, weil sie ziemlich ungezwungen über die Lage diskutieren können und das Bier von guter Qualität ist. Die Bedienung erkennt ihn auch gleich und ruft ihm im Vorbeigehen zu:“Hinten in er Ecke sitzt der Kalle, du wirst schon erwartet.“ Siegfried schlängelt sich um die Tische in dem nur schwach besetzten Raum um neben seinen Brigadier Kalle Plöger noch einen weiteren Mann zu sehen, der ihm vor her nie begegnet war. „N'Abend Siegfried, schön dass du gekommen bist. Ich darf mal vorstellen. Genosse Schünemann, das ist Siegfried Wilbarth, der Benjamin unserer Brigade. Setz dich Siegfried, der Genosse Schünemann ist deinetwegen hier. Etwas unsicher setzt sich Siegfried Wilbarth auf einen freien Stuhl. Der Mann reicht ihm seine breite behaarte Hand und entgegnet:“Siegfried, ich heiße Paul, man hat mir schon einiges über dich erzählt.“ Kalle Plöger schloss sich sofort an:“ Ich habe ihm von deinem Vater erzählt, wie er dich schon als kleinen Jungen zu unseren SPD-Versammlungen mitgebracht hat und dass dein Vater wegen der Unterstützung der Zwangsarbeiter unter den Nazis ins Gefängnis kam. Wir wollen heute über deine Zukunft sprechen.“ Siegfried konnte zum ersten Mal antworten:“Ja, schön aber das kommt jetzt ein bisschen plötzlich.“ Paul Schünemann lachte:“Na soviel Zeit haben wir ja nun auch nicht und durch die Vereinigung der KPD mit der SPD zu unserer großen SED sind wir gestärkt hervorgegangen, aber der Klassenfeind schläft nicht. Du bist ja nicht mehr ein Grünschnabel, einen Sohn hast du auch schon, wie ich gehört habe. Wir brauchen Spezialisten für die Zukunft, die zusammen mit den Fachkräften des ruhmreichen sowjetischen Brudervolkes die Technologie zur Weltspitze vorantreiben. Hört sich großartig an, aber es ist ein weiter Weg und dazu brauchen wir Leute wie dich.“ Siegfried Wilbarth gefiel diese Art der Unterredung nicht und er bemühte sich krampfhaft der Sache eine andere Wendung zu geben. „Stimmt, ich bin nicht mehr jung, war schon im Krieg und habe jetzt für eine Familie zu sorgen.“ „Und für die Waltraudt“, fiel Kalle Plöger ein. Siegfried Wilbarth bekam einen roten Kopf. Paul Schünemann war dies nicht entgangen und fiel ein: „ Immerhin bist du als Fähnrichanwärter durch den Krieg gekommen und hast anderen Bewerbern einiges voraus. Wir haben in Absprache mit der Kaderleitung deines Betriebes uns überlegt, dass wir dir den Berufsweg eines Metallurgen eröffnen wollen. Du bist ja praktisch mit dem Gießereiwesen groß geworden. Dein Vater hat schon in diesem Beruf von der Pike auf gearbeitet und die Gesellschaft braucht technischen Fortschritt zum Aufbau der Republik. Wir würden deine bisherige Arbeit in der Gießerei als Praktikum anerkennen und du kriegst einen Studienplatz an der Hochschule. Ist das was?“ Dieser suggestiven Fragestellung konnte sich Siegfried Wilbarth nicht entziehen. „Müsste ich dann nach Freiberg?“ Kalle Plöger lachte schallend: „Da wärest du schön weit weg von zuhause. Das glaube ich dir gern, nee lass man, wir haben was besseres uns ausgedacht. Du kannst das an der Technischen Hochschule in Dresden studieren mit der Aussicht auf ein Studienjahr in Moskau zu verbringen, falls du gut genug bist. Da kannst du einfach nicht nein sagen.“ Ein Schauder durchlief ihn. 'Einen tollen Plan hatten die sich ausgedacht. Studieren in der Trümmerwüste mit Aussicht Stalin und seine Säuberungen aus nächster Nähe zu erleben. Wozu hatte er sich wohl auf dem Boot herumgedrückt und schätzte sich glücklich dem Iwan entronnen zu sein, nein danke, das war nun wirklich keine Perspektive.' Die Männer spürten wohl, dass der zukünftige Metallurge es an jeglicher Begeisterung fehlen ließ.

Kalle Plöger entschloss sich zur Methode Schmiedehammer und Amboss. „Sieh mal, Siegfried, du musst ja nun auch an die Zukunft denken. Mit deiner Verena läuft es ja auch nicht gut und wegen der Waltraudt haben wir schon jede Menge Unfrieden im Kollektiv. Glaubst du vielleicht die Kollegen sehen das gern? Glaube ja nicht, dass das Neid ist, aber vielen, die aus der Gefangenschaft gekommen sind, gefällt die Idee nicht so gut, dass jemand wie du auch deren Ehefrauen abspenstig machen könnte. Ein wenig Abstand und die Zeit heilt alle Wunden und würde deiner Ehe auch ganz gut bekommen.“ Jetzt war die Reihe an Paul Schünemann. „Dein Vater hat sich scheiden lassen?“ „Woher weißt du das denn?“ stieß Siegfried Wilbarth heftig vervor. „Och, man kümmert sich schon um verdienstvolle Antifaschisten, was sie heute so treiben. Kann ich gut verstehen, dass er die Frau heiratete, welche durch eine Falschaussage ihn vor dem KZ bewahrte. Das war keine kleine Sache damals. Schau mal, es kommt bald die Zeit, da wird das nur noch ein ehrendes Andenken an ihn sein, du kannst dann davon nicht mehr profitieren, andere Proletarierkinder werden sich um Studienplätze bewerben. Die Uhr läuft langsam ab.“ 'Meine Geduld auch', dachte sich der Siegfried, doch laut sagte er. „Ihr habt recht, ich wäre dumm dieses Angebot auszuschlagen. Ich bespreche das mit der Verena und dann müsst ihr mir sagen, wie ich es anstellen muss.“ Insgeheim sagte er sich: 'das wird anders, als ihr denkt und Wiehe samt Schwiegervaters Kneipe und dem Kalibergwerk sage ich ein Nimmerwiedersehen.' „Siegfried, ich wusste es, du bist vernünftig und arbeitest nicht nur hart im Betrieb, sondern auch an dir. Jetzt trinken wir aber einen erst mal!“ „Die nächste Runde geht an mich“, ließ sich Paul Schünemann vernehmen. Den Weg in die Bürgerstraße legte Siegfried leicht schwankend zurück und in seinem Kopf drehte sich alles um das Zauberwort Berlin.


Frau Marwinek wunderte sich, dass es wieder meist totenstill bei den Wilbarths war. Lediglich der Kleine schrie manchmal, war aber eigentlich ein ruhiges Kind. Als im Juli sie wieder die Mietzahlung in das Mietbuch der Frau Wilbarth eintrug und unterschrieb, da erklärte die Mutter:“Übrigens lassen wir uns scheiden.“ Frau Marwinek war einerseits sehr erleichtert und andererseits fast etwas verärgert, dass sie von dieser Entwicklung nichts mitbekommen hatte.


Siegfried Wilbarth hatte sehr viel um die Ohren. Nach diesem Abend versuchte er am nächsten Morgen seiner Frau das Ergebnis der Unterredung beizubringen, wobei er natürlich alle Bemerkungen über die Waltraudt und den Ehezustand ausließ. Verena hörte geduldig zu, warf hin und wieder einen Blick in das Kinderbettchenn um dann unvermittelt zu sagen:“ Hör' mal, warum hast du nicht gesagt, dass du lieber Bergbau studieren willst. Es werden händeringend Ingenieure benötigt und in Roßleben kriegen wir auch eine neue Werkswohnung. Denke doch auch mal an uns.“ Siegfried dachte sich: 'das hättest du wohl ganz gern – aber ich nicht'. „ Ich kann es ja mal versuchen“, beschwichtigte er. „Ja ja, du und deine Versuche, weißt du was? Kein Wort glaube ich dir.“


Es wiederholten sich diese Gespräche, die leise waren, aber einen immer hasserfüllteren Ton erhielten. An einem Samstagmorgen eröffnete ihm seine Ehefrau: „ Ich bin es leid. Ich habe mich beraten lassen und will die Scheidung. Dann bist du frei und kannst von mir aus mit der Waltraudt zusammenziehen, wie dein Vater mit der Buchhalterin.“ In Siegfried kochte es, aber er bezwang sich: „Ah ja, wie mein Vater, zu dem ich immer mehr Abstand halte, weil er meine Mutter verlassen hat.“ „Das hätte ich an ihrer Stelle auch getan. Ich muss nicht meinen Mann zum Erfolg prügeln um aus einem Arbeiter einen Ingenieur, wie er sich jetzt nennt, zu machen.“ „Dafür hat er Erfindungen gemacht, die nützlich sind, allerdings keine, wie man zänkische Ehefrauen zum Schweigen bringt.“ In die einsetzende Stille krähte der Junge, die Mutter ging zu ihm, nahm ihn auf dem Arm und setzte sich wieder an den Tisch.


Pass auf, wir machen das so. Der Scheidungstermin kann noch im August stattfinden. Du kannst zum Wintersemester anfangen mit deinem Studium, aber wir Zwei treffen eine Absprache. Wenn du zufällig vorhaben solltest in den Westen abzuhauen, dann zahlst du mir den Unterhalt in Westmark, hast du verstanden?“ Siegfried war erstaunt: „Wie kommst du auf Berlin?“ Ich habe einen Brief an deinen Marinekameraden Rudolf gelesen. Du solltest Briefe immer ordentlich abheften, sage ich doch ständig. Da hast du dich erkundigt, wie es mit dem Studium an der Technischen Universität ist, ob dein Abschluss dort anerkannt wird. Die Antwort kenne ich nicht, aber ich habe von Frauen in der Kleinkindfürsorge erfahren, dass es keine Probleme damit gibt. Da ich aber kein Westgeld besitzen darf und es uns hier nichts nützt, eröffnest du ein Sperrkonto in Westdeutschland und zahlst den Unterhalt dort ein. Wenn ich es für richtig halte mit unserem Sohn in den Westen zu gehen, dann haben wir dort ein finanzielles Polster. Das wird dir ja wohl dein Sohn wert sein. Zahlen musst du sowieso.“ Siegfried war zuerst völlig erstaunt über diese nüchterne Aufrechnung einer Ehe, die immerhin fünf Jahre bestanden hatte. Aber andererseits eröffneten sich ihm hervorragende Möglichkeiten. Raus aus dem Leipziger Schlamassel in die Freiheit des Westens, ebenso anziehend wie die offene See, die er auf dem Schiff immer genossen hatte, trotz Kriegsgefahr. Er willigte ein.


Siegfried Hilbert war gut gelaunt. Seine Frau hatte ihm ein Schreiben der TU Dresden mit sehr skeptischem Blick den Abend zuvor überreicht. Das Schreiben erhielt die Aufforderung am 20. August im Immatrikulationsamt der Technischen Hochschule in Dresden mit allen notwendigen Unterlagen zu erscheinen. Er beruhigte sie sogleich und sie begannen mit den Planungen für das Projekt „Ausflug“ wie sie es nannten. Frau Marwinek wurde umgehend davon in Kenntnis, gesetzt, dass das Zimmer zum Ende des Monats aufgegeben würde, was Frau Marwinek ihrerseits zu dem Angebot nutzte die Hilfe ihrer Nichte zur Wohnungsvermittlung in Anspruch zu nehmen.


Am heutigen Tag jedoch kletterte die Zufriedenheit auf einen Höhepunkt, als ihm Waltraudt eröffnete, dass für Reisekader auch entsprechende Freifahrtbescheinigungen ausgestellt würden. Er solle sich bei dem Kollegen Brandis melden. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass der Siegfried studieren gehen würde. Die Einen freuten sich ehrlich, Andere dagegen empfanden dies als Befreiung von einem Luftikus. In dem Büro vom Kollegen Brandis, der recht unwillig war und erst nach Rücksprache mit dem Brigadier Kalle Plöger einwilligte, die Freifahrtbescheinigung auszustellen. Er habe ja soviel zu bearbeiten, beschwerte er sich, da möge sich doch der Siegfried selbst die Bahnverbindung aus dem Kursbuch heraussuchen. Siegfried nahm dankbar das Kursbuch und setzte sich an den kleinen Tisch neben dem Tresen. Die nächsten zehn Minuten war er damit beschäftigt, sich die entsprechende Zugverbindung auszusuchen und gewissenhaft auf einen Zettel zu schreiben, nicht ohne dazu kryptische Abkürzungen zu verwenden. Mit Dank gab er das Kursbuch zurück und verschwand.


Am Sonntagmorgen, dem 19. August, verließ er das Haus. Falls jemand nach ihm fragte, so instruierte er Verena , sei er schon beizeiten abgereist, weil er gleich bei Öffnung des Amtes anwesend sein wollte. Er würde bei einem ehemaligen Schulfreund in Radebeul übernachten. Daher fiel auch seine große Reisetasche kaum auf. Er nahm den Schnellzug nach Dresden und stand in dem vollbesetzten Zug dicht am Ausgang. Als der Zug den Bahnhof Riesa erreichte, gliederte er sich unauffällig in die Reihe der Aussteigenden ein.

Er hatte Glück, die Fahrkartenausgabe hatte schon geöffnet und als er an der Reihe war, verlangte er eine Fahrkarte nach Wustermark mit Schnellzugzuschlag. Es dauerte eine Weile, bis der Beamte die Fahrkarte ausgestellt hatte. Es kam nicht alle Tage vor, deshalb musste er zur Berechnung des Fahrpreises in dem dicken Buch der Entfernungsberechnungen blättern. „Fahren Sie bis Ostbahnhof und dann mit der S-Bahn nach Spandau-West. Dort gibt es einen Personenzug nach Wustermark. Fahren Sie nicht über Potsdam, da müssen Sie sonst einen Aufschlag zahlen.“ „Oh, danke schön, das ist sehr freundlich“, säuselte Siegfried Wilbarth und zückte seine Geldbörse.


Etwa eine Stunde später sah er in der Ferne schon die Dampflokomotive, die eine Wagenkette nach sich zog. Es waren alte Reisewagen, die aus der Vorkriegszeit stammten, vielleicht sogar aus der Kaiserzeit. Mit viel Glück ergatterte er einen Sitzplatz und bei der Kontrolle des Fahrscheins musterte der Schaffner ihn nur kurz und ging schweigend weiter.


Siegfried schaute aus dem Fenster, die Landschaft war eintönig, ausgedehnte Ackerflächen, einzelne teils baufällige Häuser und Kieferwaldungen säumten die Bahnstrecke. Dann schienen aus allen Richtungen beständig neue Gleise dazu zu kommen. Die Großstadt kündigt sich an. Vorbei an Kleingärten, Fabrikgeländen und immer dichterer Besiedlung erreichte sein Ziel. Der Berliner Ostbahnhof war im Vergleich zu dem Leipziger Pendant eher eine kleinstädtische Eisenbahnstation. Immerhin gab es eine Halle, aber die Zahl der Bahnsteige war begrenzt. Doch brauchte Siegfried erst eine Weile bis er die S-Bahnsteige gefunden hatte. Nur nicht auffallen dachte er. Aber etwas verwirrend war schon die Vielzahl der Linien. Der nächste Zug trug auf der Stirn das Ziel „Friedrichstr.“ Siegfried stieg ein und sein Blick fiel über ein ausgedehntes Ruinenfeld, als er aus dem Fenster sah, in denen offenbar Menschen wohnten. Der Zug hielt, eine dumpfe Lautsprecherstimme verkündete:“Alles aussteigen! Reisende nach...“, ging im Lärm unter. Erschreckt sah er eine Menge grüner Uniformen, die überall zu sein schienen. Selbst auf dem Querträger der Stirnwand der Bahnhofshalle lief ein bewaffneter Soldat umher. Damit hatte er nicht gerechnet. Die anderen Fahrgäst aber schienen sich nicht darum zu kümmern. Sie liefen zielstrebig auf die Treppen zu oder traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen in Erwartung eines S-Bahn Zuges. Siegfried fand endlich eine Abfahrtstafel. Auf dem gegenüber liegenden Gleis müsste jetzt ein Zug nach Spandau-West einfahren. Glücklicherweise hatte der Bahnsteig sich ziemlich geleert und der einfahrende Zug recht leer. Etwa zwanzig Meter entfernt standen zwei Polizisten, die ihn aber nicht beachteten. Fast lautlos verschwand er im Wagen und stellte die Tasche auf den Boden. Sie schien ihm zu verräterisch, doch der Zug fuhr bereits los. Im weiten Bogen hoch über dem Straßengrund befand er sich jetzt auf der Trasse der Stadtbahn. Immer wieder gab es weite Brachen, Häuser mit unverputzten Wänden, Gebäudereste, die wie Zahnstummel aussahen. Dann überfuhren sie die Spree. Die Landschaft öffnete sich. Vereinzelte Häuser tauchten auf zwischen den hellen Ödlandflächen aus märkischem Sand. Eine gespenstische aber sehr übersichtliche Kulisse fand Siegfried. Er war diese Strecke schon einmal gefahren, als er sich nach dem Notabitur bei der Marine meldete. Doch damals war diese Gegend dicht bebaut mit einzelnen Trümmerhäusern durch die Bombenangriffe, ähnlich wie in Leipzig. Aber das ist ja tabula rasa, schoss es ihm durch den Kopf. Sie erreichten den Lehrter Stadtbahnhof, dann folgte die schmutzige Bahnhofshalle von Bellevue, deren Glasscheiben nur gelblich trübes Licht durchließen und endlich Tiergarten. Jetzt wurde Siegfried erst klar, dass er nun im Westen angekommen war. Er schnappte sich die Reisetasche und stieg beschwingt aus. Vor dem Bahnhof stand ein schiefer Kiosk, der geöffnet schien. Ihm fiel jetzt ein, dass er ja gar kein Westgeld bei sich hatte. Dennoch erkundigte sich er nach der Tile-Wardenberg Str. Ein älterer Mann gab ihm freundlich Auskunft. „Passen Se uff, die Brücke bei die Wüllenweberstraße is noch nich in Ordnung, da müssen Se ehm nen Umweg machen, Se jehn die Bachstraße hier runter, bis ze Altonaer Straße, denn links über die Spree, det is denn die Levetzowstraße, aber vor die Straße jehn se links anne Spree lang, denn die zweete Straße rechts, dit is die Tile-Wardenberg Str, die zieht sich aber.“ „Danke ich muss zum Haus Nummer 20.“ „Det kann ick Ihnen nu nich sagen, wo det is, ick wohn richtich in Moabit, is aber alles nich weit, so zwanzich Minuten ze Fuß dürfte für Ihnen ja keen Problem sin. Ick habe da mit meenem steifen Been mehr ze tun, det verdanke ick dem Führer, der sich ja hier nich soweit weg erschossen hat und der Jöbbels hat hier ooch in die Nähe jewohnt.“ „Ach, das ist ja eine richtig historische Gegend hier“, versuchte Siegfried zu scherzen. „Na, wissen Se uff diese Historije kann ick jern vazichten, sin Sie denn übahaupt im Kriech jewesen?“ „Ja, bin ich guter Mann“, beeilte sich Siegfried zu versichern. „Na da ham se wohl ne ruhige Kugel schiem können, is ja ooch ejal, is vorbei.“ Siegfried lüftete seine Schiebermütze und beeilte sich dem Weg zu folgen. Nach zwanzig verschwitzten Minuten klingelt er an der Wohnungstür seines Kameraden Rudolf. Wenig später saßen sie am Küchentisch. Zum ersten Mal seit langem trank er wieder Bohnenkaffee. Köstlich, das fängt ja gut an. „Siegfried, hier kannst du erst mal nicht bleiben. Du brauchst zwar kaum noch Marken, aber hast kein Westgeld. Am besten fährst du mit mir zur Kuno-Fischer-Str. Da beantragst du die Anerkennung als politischer Flüchtling, bis du dann Westbürger wirst. „Ist das sowas wie ein Laa-ger?“ Siegfried dehnte das Wort besonders. „Ich dachte nach der Gefangenschaft bei den Tommis wäre das Geschichte.“ „Nee,du musst ja nachweisen, dass du aus politischen Gründen geflohen bist. Warst du in der SED?“ „Ja, ging nicht anders, als die Zwangsvereinigung kam.“ „Gut, dann streiche doch mal deine SPD-Vergangenheit hervor, dass du deshalb in Ungnade gefallen bist. War nicht dein Vater auch ein altgedienter Sozi?“ „Na klar, darum haben die Nazis ihn ja auch in der Mangel gehabt.“ „Mensch, Siegfried, das ist doch hervorragend. Du schmückst das ein bisschen aus und trittst am besten hier gleich wieder in die SPD ein.“ Dann klappt das auch mit dem Studienplatz und du kriegst Geld und ein Stipendium.“ „Dann werde ich keinesfalls erwähnen, dass ich schon einen Studienplatz in Dresden sicher hatte.“ „Nee, Siegfried auf keinen Fall und denk mal an deine Frau, die vielleicht jetzt Ärger kriegt, dass du da noch was geschicktes drüber sagst.“ „Werde ich machen“, versicherte Siegfried Wilbarth. Es wurde Abend und die beiden Männer machten sich auf zu der Eckkneipe von Rudolf. Siegfried konnte die Nacht in der Küche auf dem Sofa schlafen, Rudolfs Frau kümmerte sich eindrucksvoll um den „Zonenflüchtling“. Doch für ein längeren Aufenthalt war einfach kein Platz in der kleinen Wohnung.


Am nächsten Morgen machten sie sich auf zum S-Bahnhof. Nach kurzer Zeit lief ein Zug mit der Fahrtrichtung Potsdam ein. Siegfrieds Stirn legten sich in Falten. Aber Rudolf lachte nur, wir steigen vorher aus, aber wenn du allein einschlafen solltest im Zug, kannst du schon wieder in deiner DDR aufwachen. Siegfried sah nun das neue Zentrum Westberlins, den Zoo, die Straßenzüge, in denen sich Mietshaus an Mietshaus reihte, die Zerstörungen waren doch geringer. Sie ähnelten denen in Leipzig. Am Bf. Charlottenburg stiegen sie aus. Auf dem breit angelegten Stuttgarter Platz war gerade ein Reisebus vorgefahren. Eine Schlange von Reisenden wartete, während deren Koffer im Bus und auf dem Wagendach verstaut wurden. „Wohin fährt der?“ fragte Siegfried. „Entweder nach Frankfurt oder München. Das ist das Busunternehmen Paul Kühn. Würde ich dir nicht empfehlen, weil deine Reise an der DDR-Grenze beendet ist.“ „Auch wenn ich einen Westausweis habe?“ Siegfried schien skeptisch. „Ja, auch dann, du bist wahrscheinlich noch nicht zur Fahndung ausgeschrieben, aber in zwei Tagen wird ganz sicher nach dir gesucht werden. Die sind gründlich und vergessen nichts.“ Du kannst aber auch fliegen, das machen alle Zonenflüchtlinge um Berlin zu verlassen.“

Die Rönnestraße zog sich hin. Als sie dann von der Suarezstr. in die Kuno-Fischer-Str. einbogen waren sie auch schon am Ende der Menschenschlange angelangt, die vor einem großen Gebäude geduldig wartete. Nach Zwei Stunden hatte es Siegfried geschafft und stand vor einem Sachbearbeiter, der ihm einen ausführlichen Fragebogen hinüberschob. „Wenn Sie den ausgefüllt haben, dann melden Sie sich in Zimmer 230“. Wenn sie sich beeilen sind sie vor dem Mittag noch fertig und erhalten das Startgeld, sonst erst ab zwei Uhr nachmittags wieder.


Er bekam einen Laufzettel und vor dem Zimmer 230 warteten eine Reihe von Menschen, doch es dauerte stets 20 Minuten, bis der Nächste eingelassen wurde. Als Siegfried den Raum betrat, sah er sich einem großen Tisch gegenüber, an dem ein britischer Offizier und ein deutscher Sachbearbeiter mit seinem Fragebogen saß. Der Offizier sprach mit starkem Akzent und wollte ausführlich wissen, wo er bei der Marine gedient hatte. Siegfried gab wahrheitsgemäß Antwort und verwies auf sein Verhör bei der Gefangennahme. Der Offizier nickte. Dann sollte er die Gründe schildern, warum er die DDR verlassen habe. Er schilderte fast penetrant den ungeheuren Druck der SED-Leitung, der eine Folge seiner SPD-Mitgliedschaft bis zur Zwangsvereinigung zu schulden sei. Von der ihm zur Last gelegten Verbindung zu seiner Mutter, die in Westdeutschland lebte und sein Vater ihm selbst bei der SED ein schlechtes Zeugnis ausgestellt hatte. Er wäre durch die Haft unter den Nazis zum Kommunist geworden. Fast weinerlich sprach er von seiner Ehefrau und dem Sohn, den er habe zurück lassen müssen und dass die Beiden, sobald sich eine Möglichkeit bieten würde, in den freien Westen nachkommen wollten. Der Sachbearbeiter nickte erfreut und versicherte ihm, dass er sein volles Mitgefühl habe. Siegfried überhörte im Überschwang seines gelungenen Auftritts den routinierten, glatten Ton des Beamten. Er wurde weite geschickt zum Fotografen. Tatsächlich konnte er gegen Mittag eine Lichtbildbescheinigung, eine Unterbringungseinweisung, nebst dem Startgeld sein eigen nennen. Er fühlte sich grandios und als er dieses pompöse Gebäude verließ, was ihm architektonisch sehr gefiel in der idyllischen Lage am Lietzensee, stand Rudolf mit einer Tüte Schrippen und einem Stück Wurst abseits und sie gingen einen Fußweg zum See entlang, wo sich eine freie Bank befand.


Sag' mal, wo kommst du denn hin?“ Rudolf schaute auf die „Wohnraumzuweisung“ und las die Adresse. „Benschallee 30 in Zehlendorf, Scheiße, das ist ja ein heißes Pflaster. Kommst zu den ehemaligen Fremdarbeitern oder Dipi wie man sie hier nennt.“ „Dipi? Pipi macht mein Sohn, aber DiPi?“ Rudolf musste lachen, „na das ist nicht so lustig. Dipi steht für 'displaced persons ' und meint ehemalige Zwangsarbeiter, die nicht mehr in ihre Heimat können. Sind viele Russen dabei. Das ist ein Barackenlager aus Kriegszeiten, als diese Arbeiter für Rüstungsbetriebe dort tätig waren.“ Siegfried war alles andere als begeistert. „Also doch wieder Gefangenschaft, dachte das hätte nun ein Ende.“ Rudolf schüttelte den Kopf. „Nun warte es mal ab. Ich rede mal mit den Genossen in Steglitz, vielleicht können die was machen. Berlin hat eben eine große Wohnungsnot. Du kannst hier nicht einfach eine Wohnung mieten. Musst beim Wohnungsamt eingetragen sein. Aber das bereitet mir keine große Sorge, die Grenznähe ist viel schlimmer. Wirst du gleich sehen, wenn wir dort hinfahren.“


Die Reise führte vom Bahnhof Charlottenburg über Westkreuz, Schöneberg und Steglitz nach Zehlendorf. Dort sah Siegfried auf einem weiteren Bahnsteig einen kurzen S-Bahnzug stehen. Düppel war das Fahrtziel. „Hat das was mit der Düppel-Störung zu tun?“ fragte er Rudolf. Rudolf nickte: „ Ja, da befand sich eine Dienststelle der Reichsluftwaffe. Göring selbst hat diesen Namen für die Blechstreifen ausgesucht.“ Der S-Bahnzug setzte sich rumpelnd in Bewegung, durchquerte Kleingartenkolonien, an Ödland und kleinen Wäldchen vorbei war schon nach fünf Minuten das Fahrtziel erreicht. Ein kahler Bahnsteig mit einem zerlöcherten Dach als Aufgang und das Gleis endete nach 20 m an einem Prellbock. Es schien das Ende der Welt zu sein. Ein Straße überquerte das ehemalige Gleis. Rudolf warnte: „Immer nach rechts abbiegen, zügig gehen, nicht umherschauen. Links beginnt nämlich gleich Klein-Machnow, das ist DDR. Du wärest nicht der Erste, der wieder einkassiert würde, wenn du zu leichtsinnig bist und die auf dich aufmerksam werden.“ Siegfried schüttelte nur den Kopf. Ein Radfahrer beladen mit einem Sack schlingerte die Straße entlang, sonst war niemand zu sehen. Es herrschte absolute Stille. Die Sonne brannte auf die staubige Erde, sehr weit entfernt mochte eben wohl ein Hahn gekräht haben. Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch gelangten sie linker Hand auf einen breiten Platz, der von Baracken gesäumt war. „Ist ja wie früher“, murmelte Siegfried. Rudolf nickte. „Ja, hier hatte das OKH ein Lager für die Soldaten. Weiter nach Süden wird es vornehmer, da haben die SS-Reiter ein Gemäuer besetzt und wenn du die Straße runtergehst, kommt links das Zwangsarbeiterlager.“ Sie bogen in das Barackenlager ein und meldeten sich im Haupthaus. Siegfried empfing so etwas wie Bettwäsche, eine Decke, ein Kissen – das war es. „Haben Sie gedient?“ fragte der ausgebende Angestellte. Siegfried nickte und fügte hinzu: „Ich habe solange gedient, bis ich völlig bedient war.“ „Na denn ham sie ja das noch gelernt und können gleich wieder mit dem Bedienen hier anfangen. Als erstes bedienen sie sich mal eines vorschriftsmäßigen Verhaltens. Der Älteste in dem Ihnen zugewiesenen Haus 12 wird Ihnen die Hausordnung zum Lesen geben, die Sie dann abzeichnen müssen auf dem Papier, hier. Dann weist er Sie in unseren Tagesablauf ein. Gehen Sie gleich morgen zur Pollezei und melden sich da an. Dann gibt es auch am Ende der Woche Geld. Ham Se alles verstanden? Gut, dann schönen Aufenthalt bei uns, dass Se bald wieder verschwinden können. Habe die Ehre.“ Der Mann verschwand im Haus.


Rudolf musste lachen: „Das ist ja wie bei unserer Aufnahme im Marineausbildungslager. Mensch, ich habe eben gedacht ich bin zehn Jahre jünger.“ Siegfried konnte nicht lachen. Er kochte innerlich. So etwas tat man ihm an. Ihm, der das Leben genießen wollte und alles hinter sich lassen, was an Leipzig noch erinnerte.


Frau Marwinek konnte im September wieder über ihre Wohnung verfügen und erwartete freudig ihren Otto, der zu Weihnachten zuhause sein sollte. Verena Wilbarth zog mit ihrem Sohn um in eine wieder hergestellte Zweiraum-Wohnung in Stötteritz. Die Markkleeberger Episode schien abgeschlossen.


Doch da irrte sich Frau Marwinek und konnte bald später dem Fräulein von Astenbeck das Neueste über die Verena Wilbarth berichten: „Ich habe Neuigkeiten von der Verena Wilbarth. Durch die Vermittlung meiner Nichte, die bei der Wohnungsbaugesellschaft arbeitet wohnt sie doch jetzt in Stötteritz. Im Nachbarhaus ist die Verena in eine wieder hergestellte Zweiraumwohung gezogen.“ Fräulein von Astenbeck stellte augenblicklich ihren Mülleimer mit blechernem Geräusch ab. „Die gute Verena Wilbarth hat nämlich Besuch von der Volkspolizei bekommen. Die haben sich auch genauestens bei der Genossenschaft über sie erkundigt.“ „Das ist ungeheuerlich, dabei war sie doch immer so eine anständige Frau“, entgegnete das Fräulein von Astenbeck erschüttert. „Jaja, das ist sie auch, aber die haben den Siegfried gesucht. Der ist nämlich getürmt.“ „Was Sie nicht sagen - weggemacht in den Westen?“ „Ja, jetzt sitzt sie da und hat kein Geld. So Einer ist das nämlich. Sie lebt jetzt auf Republikskosten. Aber, wenn sie den Siegfried schnappen, dann geht der ab in den Knast – sowas kommt ins gelbe Elend.“ „In was für ein Elend?“ Fräulein von Astenbeck schien ratlos. „Na nach Bautzen, wo die Politischen sitzen“.


Wenige Wochen später, hatte er sich gut eingelebt und da das Semester erst Mitte Oktober begann, machte er sich im SPD-Parteibüro in Steglitz nützlich. Das Geld war stets knapp, doch er kam so zurecht und die Überzahl der Frauen sagte ihm sehr zu. So manche Essenseinladung, gelegentlich durfte es auch etwas mehr sein, genoss er in vollen Zügen. Da sprach ihn ein altgedienter Genosse aus Lichterfelde an. „Bist du in der Kirche?“ Siegfried bejahte. Er war noch zu Nazizeiten konfirmiert worden, was seine Mutter durchgesetzt hatte. „Bei der Superintendentsfamilie Stakenburg wird eine Mansarde frei. Ich werde mal mit dem hohen Geistlichen reden. Aber Finger weg von den Töchtern und einen ordentlichen Lebenswandel in Zukunft bitte.“


So kam Siegfried Wilbarth in das Haus des Superintendenten Stakenburg der Lichterfelder Thomaskirchengemeinde. Frau Superintendent Mechthild Stakenburg steckte ihr Haar sorgfältig zu einer „Portierzwiebel“ hoch, während der bebrillte Geistliche sehr auf das Studium der Bibel, dem gottgefälligen Lebenswandel achtete und jeglicher Modernität abhold war. Der Untermieter wurde stets von der frommen Gattin misstrauisch beäugt, von den Töchtern neugierig angestaunt, während jedoch die Ältere sehr distanziert zu ihm war. Sie war dem Gemeindevikar versprochen und sollte als folgsame Ruth auf die zukünftige Pfarrstelle mit ihrem Verlobten warten. Siegfried gab sich die größte Mühe die Erwartungen zu erfüllen. Allein es wollte ihm nicht glücken.


Das hatte um so bessere Auswirkungen auf sein Studium und nach zwei Jahren trafen mütterliche Briefe ein, die nicht mehr an den stud.ing. Siegfried Wilbarth adressiert waren, sondern es hieß: cand.ing. Der Candidatus jedoch war zu dieser Zeit im SDS der studentischen Gruppierung der SPD aktiv und engagierte sich ebenso leidenschaftlich bei einer Kriegerwitwe mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Die Waltraudt war längst abgemeldet und die monatlichen Zahlungen an seine geschiedene Ehefrau ärgerten ihn jedes Mal und er hoffte, dass dies bald ein Ende haben könnte. Seine Flucht aus rein politischen Gründen galt auch nicht mehr als einzigartig, denn die Zahl der politischen Flüchtlinge mit genau denselben Beweggründen, die ihn aus dem Arbeiter- und Bauernstaat vertrieben hatten, nahm beständig zu und das neue Notaufnahmelager in Marienfelde bewies auch mehr Komfort als sein ehemaliges Wehrmachtsbarackenlager, was ihn aber schon längst nicht mehr scherte. Jetzt hieß es die Kommunisten zu verteufeln um der CDU Stimmen abzujagen und dazu war jedes Mittel recht.


Im Krieg und in der Liebe ist angeblich jedes Mittel erlaubt. Daher kann es auch bei Mittellosen zu ernsten Konsequenzen, ja gar zu echten Lebensproblemen, führen. Besonders, wenn es an Verhütungsmitteln gebricht. Doch Siegfried Wilbarth war ja nun im Flüchten geübt - gleich ob DDR oder Kriegerwitwe – Es war nur ein weiterer abgehakter Punkt in seinem Lebenslauf, den wir zu einem späteren Zeitpunkt noch näher betrachten werden.





Fotos: (von oben nach unten) 1-3 Lutz Ebers-Lehmann

                                             4-5 Stephan Ebers

                                             6-9 Harald Ebers



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