Zwei Mal Preisstufe 2

nach Berlin-Ostkreuz

 

Großmutter entschied: “Der Junge muss raus, Frischluft ist das Beste für ihn. Gerade jetzt nach dem Unfall. Ich nehme ihn mit zu

Ottilie und August.Ich spitzte die Ohren, das roch nach S-Bahn, Dampf und Abenteuer. Mit fünf Jahren einem langen Krankenhausaufenthalt entronnen, da gab es wieder etwas Abwechslung von den regelmäßigen Besuchen der Krankengymnastin, der Schonkost und behutsamen und langweiligen Spaziergängen mit den Großtanten, den Schwestern meiner Großmutter. Wie kam es dazu, dass ein halbwegs gesunder Junge sich solchen Behandlungen unterziehen musste? Das ist schnell und schmerzhaft erzählt. Mein Großonkel wollte mit meiner Großtante und mir an einen grauen Novembertag des Jahres 1958 zur Konditorei Storch fahren um Kuchen für den gemeinsamen Kaffeetisch zu besorgen. Leider war mein Großonkel für eine gute Sekunde abgelenkt und der stabile Volkswagen kam von der Fahrbahn ab und nahm auf der linken Straßenseite Kurs auf einen soliden Straßenbaum. In letzter Sekunde wollte mein Onkel abbremsen, aber er trat auf das Gas mit dem Erfolg, dass meine Großtante durch die Windschutzscheibe flog, ich auf dem Rücksitz mit Stirn und Nase auf die eiserne Rückenlehne prallte und etwas deformiert wurde. Kurz und schlecht, die nächsten Wochen verbrachte ich im Rittberg-Krankenhaus und brauchte lange um mich zu erholen.

 

Meine Großmutter jedoch wischte die Bedenken beiseite, nahm  mich an die Hand und wir traten aus dem Haus. Eine weiße Decke lag auf den Sträuchern, die Bäume im Vorgarten waren ebenfalls mit Schnee überzuckert. Auf dem Bürgersteig hatte man den Schnee zu Hügeln zusammengeschoben. Als ich morgens im warmen Bett wach wurde, hörte ich das Schaben und Kratzen der Schneeschippen. Wohlig streckte ich mich noch einmal aus. Jetzt bereitete es mir Freude mit meinen Alltagsschuhen gelegentlich in einen Schneehaufen zu treten und mich über die tiefen Spuren darin zu freuen. Die Welt sah viel feierlicher aus. Die Stromabnehmer der Straßenbahn sprühten blaue Funken und auf den nicht geräumten Wegen in den Seitenstraßen sah man frische Spuren von uns, die wir hinterlassen hatten. Die Luft war kalt, hinterließ ein kratziges Gefühl im Hals. Aus den Schornsteinen quollen dichte Rauchwolken manchmal gelblich, oder wieder schwärzlich. Das kannte ich, wenn wir morgens die Öfen anheizten und manchmal etwas Rauch aus der Ofentür ins Zimmer trat. Schnell passierten wir den Baum, wo mein Großonkel uns so unsanft zum Stehen gebracht hatte. Links war eine riesige Kohlenhandlung mit einem Förderband, abgelöst von einer Bauschlosserei und dahinter befanden sich schon die Bahngleise. Man konnte die Züge hören, aber durch die Bauten war der Blick dahin verstellt. Auf einer Baracke thronte eine Luftschutzsirene aus dem zweiten Weltkrieg. Sie diente als Signal für das Schichtende und wenn sie so schaurig zu heulen begann, dann musste ich an die vielen Erzählungen denken, die in meiner Familie kursierten, wo irgendjemand ausgebombt, verschüttet oder umgekommen war. Ich hasste das Geheul und war heilfroh, wenn wir sie hinter uns gebracht hatten. Dann kam der Bahnhofsvorplatz, ein breiter Platz mit Fachwerkbauten ringsum. Das Bahnhofsgebäude mit imposantem Turm aus gelben Klinker schloss den Platz ab. Ich liebte dieses Ensemble. Es machte einen so gemütlichen Eindruck im Gegensatz zu den lauten, verkehrsreichen Straßen, den endlosen Häuserreihen, den kleinen abgezirkelten Rasenflächen mit Gesträuch umrandet und es war strengstens verboten den Rasen zu betreten. Aber dieser Bahnhof mit kleinen verschiedenen Geschäften und dem „U“ aus Fachwerkhäusern, dem Halteplatz für Taxen - das war für mich eine abgeschlossene Welt, die gar nicht zu dieser Großstadt zu gehören schien. Es passte eher zu der Landschaft in Schleswig-Holstein, wo Großmutter mich zum ersten Mal aus Berlin zu Verwandten mitnahm.

 

Jene steuerte jetzt aber auf einen winzigen Laden neben dem Optikergeschäft und einer Kneipe mit Namen „die Bratpfanne“ zu. Der Geschäftsraum war nur spärlich erleuchtet, der Rauch vieler Zigaretten ließ ihn noch dunkler erscheinen. Bei dem Türöffnen strömte uns ein feuchtwarmer Brodem entgegen. In der Ecke stand ein Kanonenofen. An der einen Wand war ein Schalter hinter dem ein Mann mittleren Alters saß. Ich wusste genau, was wir hier zu tun hatten. Man erklärte mir die Aufschrift vor dem Laden, dass es sich um eine Wechselstube handeln würde. Na gut, Geld wechseln war nichts  ungewöhnliches. Wenn Mutter einen zu großen Schein hatte, ging sie eine Etage tiefer und fragte ihre Tanten, ob sie wechseln könnte. Die Farbe der Scheine hatte ich mir schon gemerkt. Meine Großtante bündelte sie oft und steckte sie in eine Lohntüte für ihre Angestellten. Also der Vorgang in der Wechselstube unterschied sich nur dadurch, dass meine Großmutter die messingfarbenen Groschen in silbrige Blechplättchen umtauschte, die ganz leicht waren. Nebenbei schien sie aber noch mehr zu tauschen, doch ich achtete nicht weiter darauf. Danach gefragt wollte sie nie so recht erklären, warum wir ausgerechnet diese Wechselstube besuchen mussten. Es war fast etwas geheimes, was dem Laden anhaftete. Ich war auch schon ungeduldig; wir wollten doch den Zug nicht verpassen.

 

Endlich waren wir wieder draußen. Auch auf einigen Gleisen lag der Schnee und als eine S-Bahn nach Wannsee einfuhr, da glaubte man sie auf leisen Sohlen fahren zu hören. Durch das Bahnhofsgebäude sind wir nie gegangen. Ich war neugierig, was es wohl darin zu sehen gäbe. Mir ist das bis zu unserem Wegzug aus Berlin nicht gelungen das Innere zu Gesicht zu bekommen. Wir waren schon auf der Hinterseite des Gebäudes, wo eine breite Treppe nach unten führte. Ein feuchter breiter Gang, durch wenige Glühlampen funzelig erleuchtet, entpuppte sich als Tunnel. Am anderen Ausgang kam man zur Fontanestr. Jedoch wir wandten uns rechts den Schaltern im Tunnel zu. Das erste große bodentiefe Fenster gehörte zur Gepäckaufbewahrung. Meine Großmutter war sehr reiselustig. Respektlos meinte mein 13 Jahre älterer Bruder, wenn er nicht wüsste, wer die Mutter unserer Großmutter sei, dann könnte man meinen sie stamme von den Zigeunern ab. Das war nicht nett, aber verständlich. Mehr als einmal musste ich sie begleiten, wenn sie einen Koffer zur Gepäckaufgabe brachte, oder selbigen wieder dort abholte. Daneben gab es zwei Fahrkartenschalter. Das habe ich nie begriffen, warum meine Großmutter, wenn wir zu Tante Ottilie und Onkel August nach Ostkreuz fuhren, stets die Fahrkarten am ersten Schalter kauften. Dort wurden die Blechmünzen ruckzuck eingezogen und wir bekamen Fahrkarten mit schwarzen Aufdruck. Ich wollte zu gern den grünen langen Fahrkartenautomaten ausprobieren, aber ich durfte es nicht. Er röhrte so dunkel und spuckte die Fahrkarten rot bedruckt aus. Allerdings warfen dort die Leute die messingfarbenen Groschen ein. Dann ging es die Treppe zum Bahnsteig hinauf, wo in einer verglasten „Wanne“ die Fahrkartenknipserin Zeichen in unsere Fahrkarten stanzte. Endlich waren wir auf dem Bahnsteig angekommen. In der Ferne sah ich die Dampflok, die einen Güterwagen zog, ein Zug stand auf einem fernab gelegenen Bahnsteig, dem sogenannten amerikanischen Bahnhof. Dort wurden Soldaten, Panzer und anderes Material entladen. Es gab sogar eine eigene Straße dorthin. Aus der Ferne sah ich eine S-Bahn herannahen. Ah, das war ein alter Zug, wie spannend. An der Stirn waren zwei Dachlaternen angebracht und auf den Waggondächern befand sich eine Längsreihe von Hörnchen. Viel später lernte ich dafür den Begriff „Kuckuckslüfter“. Der großgewachsene aber einarmige Stationsvorsteher mit seine Kelle rief ganz laut:“Nicht einsteigen!“, der Zug hatte schon fast den Bahnsteig erreicht. Neben den Dachlaternen waren die Scheinwerfer unförmig wie bei einer Kutsche am unteren Ende angebracht. Obwohl ich nicht lesen konnte, sah ich doch den grünen Strich, der gleichsam das Fahrtziel durchstrich. Großmutter hatte mir gesagt, dass der Zug nach Oranienburg fahre, wir aber den keinesfalls benutzen könnten und so musste ich zurücktreten und betrachtete den durchfahrenden Zug mit Respekt. Dort saßen ganz normale Menschen, ein Rätsel wie so viele auf der Welt für einen neugierigen Jungen, der bald sechs Jahre zählen sollte. Zwanzig Jahre später erfuhr ich etwas über diese Züge mit durchgestrichenen Fahrtziel. Weil zu dem Zeitpunkt, als wir Tante Ottilie und Onkel August besuchten, die Umgehungsstrecke noch nicht vollendet war, die von Potsdam aus über Königs-Wusterhausen durch Ostberlin in großem Bogen an Oranienburg und Nauen vorbei wieder gegen den Uhrzeigersinn nach Potsdam führte. Sie verlief ausschließlich auf dem Gebiet der DDR. Bis zur Vollendung mussten die Potsdamer Bürger also quer durch Westberlin nach Ostberlin reisen. Das ergab merkwürdigerweise einen gewissen Fahrgastschwund. Einige hatten sich wohl im Bahnhof geirrt und waren in Zehlendorf oder Steglitz ausgestiegen, wo es ihnen offenkundig viel besser gefiel. Sie beschlossen zu bleiben.  Das ist natürlich kein Ruhmesblatt für den öffentlichen Nahverkehr, so kam es zu den sogenannten „Durchläuferzügen“ mit durchgestrichenem Fahrtziel. Wer in Potsdam oder Griebnitzsee einstig, der konnte frühestens am Potsdamer Platz wieder aussteigen. Oder er fuhr weiter ab Nordbahnhof ohne Halt bis Hohen Neuendorf oder Oranienburg.

 

Ab dem 13. August 1961 gab es jedoch diese Züge nicht mehr. Ja, vieles sollte sich ändern, doch im Februar des Jahres 1959 dachte noch niemand daran, dass die Stadt endgültig geteilt werden sollte. Da glitt unsre S-Bahn heran und jetzt konnten wir verreisen. Der Stationsvorsteher hob seine Kelle und rief „Zurückbleiben“. Im ersten Wagen klopfte eine Eisenbahnerin mit schief sitzendem Schiffchen gegen die Scheibe und betrat den Triebwagen. Mit einem ratternden rollenden Geräusch flogen die Türen zusammen und der Elektromotor setzte mit röhrendem tiefen Ton ein, der schnell höher wurde je mehr Fahrt der Zug aufnahm. Dumpfes Gerumpel und helles Klirren auf der Brücke über der Drakestraße, rechts und links säumten endlose Häuserreihen die vier Eisenbahngleise. Zwei für die S-Bahn und zwei für Güterzüge, die man aber nur ganz selten zu Gesicht bekam. Doch heute waren die Bahndämme, der Schotter und die Schwellen mit dicker weißer Schneeschicht versehen und trotz des grauen Himmels ging ein Leuchten von den weißen Flächen aus.

 

 

Wir hatten schon den Bahnhof Steglitz passiert. Das furchtbarste Geschäft, was ich kannte, war auch schon meinem Blickfeld entwichen. Die Robert-Lück-Straße verlief längs der Bahngleise und dort befand sich ein etwas düsteres Geschäft mit dem Name „Der modische Schnitt“. Schnittmusterbögen kannte ich von zu Hause, aber hier traf sich eine Ansammlung von Frauen, die alle nur eines kannten, in Grabbelkisten knisternde Schnittmusterbögen anzuschauen und darüber auch noch zu diskutieren. Es gab keine damals keine UNO-Kinderrechtskonvention, denn für einen fünfjährigen Jungen war der Aufenthalt dort ein glatter Gesetzesverstoß. Wenig später erreichten wir Schöneberg. Da konnten wir die Rolltreppe benutzen. Großmutter schärfte mir ein:“Jetzt einen großen Schritt“, und wir glitten  langsam nach oben. Der obere Bahnsteig lag quer zu unteren Wannseebahn. Hier fuhr die Ringbahn und die Linie nach Grünau. Der Zug, der sogleich einfuhr war von der Bauart „Olympia“, wie ich später erfuhr und zu gern wäre ich einmal damit gefahren, doch wir mussten auf die Ringbahn warten in Richtung Ostkreuz. Die Fahrt dauerte nicht lange, doch überquerten wir unzählige Bahnanlagen, nahezu Gleisnetze im Bereich des Bahnhofs Papestraße, die sich vereinigten und wieder aufteilten. Gelegentlich stand dort ein Güterwagen, verschob eine Dampflok Waggons. Wie von unsichtbarer Hand gesteuert. Dazwischen  tauchten Fabrikhallen, Baracken und einsame Lagerplätze auf, wo aus abgestellten Geräten, Reifen, Kohlen- und Blechhaufen der Schnee eine anmutige Hügellandschaft erschaffen hatte.   Nach dem Bahnhof Sonnenallee gelangten wir zum Treptower Park. Vom Zug aus konnte man die Dampferanlegestelle der weißen Flotte betrachten, doch heute dümpelte ein einsames Ausflugsschiff an der Kaimauer des Hafens. Es sollte wohl noch lange dauern bis zur Sommersaison.

 

Der Bahnhof Ostkreuz dagegen bot ein verwirrendes Bild von Bahnsteigen, dazwischen liegenden Durchgangsgleisen und einem Gleisbogen wo eine S-Bahn einfach keck diesen großen Bahnhof umfuhr um wieder in der Ferne zu verschwinden. Die Granitplatten auf dem Fußweg bedeckte eine Schneeschicht, die sich teilweise rötlich durch die ausgestreute Ofenasche

farbte. Da knirschte und kratzte der Schnee unter den Schuhen. Mir wurde kalt. Bald hatten wir das Haus, wo meine Großmutters Cousine Ottilie mit ihrem Mann August wohnte. Ein großes Haus mit einer rußgeschwärzten Fassade, wie so viele in Berlin und mit dem obligatorischen Durchgang zum Hinterhof. Dieser Hof jedoch hatte eine U-Form angenommen und war daher vom Tageslicht verwöhnt. Das lag daran, dass eine Sprengbombe den einen Seitenflügel der Wohnanlage dem Erdboden gleichgemacht hatte. Stehengeblieben war das Hinterhaus mit einer unverputzten Hauswand, wo man das Mauerwerk in seiner Regelmäßigkeit bewundern konnte. Es war nichts anderes als die ursprüngliche Trennwand zum Seitenflügel, welcher sich verflüchtigt hatte. Just in einer dieser Wohnungen lebten Tante Ottilie und Onkel August, der als echter Eisenbahner nun seinen Ruhestand nebst Kleingarten auf Reichsbahngelände genoss. Es war wohl eher ein unterkühlter Genuss, denn die Bude war schwer warm zu kriegen und meine Großmutter, die gern ungefragt Ratschläge erteilte und einen Umzug empfahl, geriet deshalb sogar mit ihrer Cousine samt Ehemann in Streit. Doch das ist eine andere Geschichte. Als wir die Wohnung betraten, musste ich die Schuhe ausziehen und man missbilligte meine nassen Füße in der weißen Strumpfhose, die mir umgehend ausgezogen wurde, an den Kachelofen zum Trocknen gehängt wurde. Ich bekam warme riesige Pantoffeln und mir wurde es schnell wieder warm, während meine Großmutter sich mit Tante und Onkel leise unterhielten. Ich hörte nur: „Der Junge braucht einfach neue Schuhe für den Winter.“ Onkel August nickte. Bald war die Strumpfhose wieder trocken und gut durchgewärmt, da hieß es:“Du fährst jetzt mit Onkel August nach Köpenick. Da geht ihr in ein Schuhgeschäft und du sagst keinesfalls „Onkel“ zu ihm  sondern „Opa“. Das ist dein Opa, hörst du?“ Ich nickte. Meine Großmutter fuhr fort:“Onkel August will auch noch in den Kleingarten, da könnt ihr Beide nach dem Rechten sehen und dann kommt ihr zurück.“ Ich war begeistert. Ich liebte diesen Kleingarten mit seinen weißen Himbeersträuchern und den Stachelbeeren, da durfte ich ungestört den ganzen Nachmittag spielen mit einem großen bunten Ball, der mir einmal in die Regentonne fiel mit lautem Platschen und dazu führte, dass meine Großmutter wie ein geölter Blitz um die Ecke schoss und dachte ich wäre statt des Balles in die Tonne gefallen. Die Schimpfkanonade, die wohl mehr als Erleichterung diente, blieb in meinem Gedächtnis haften.

 

Wir verließen die Wohnung und trotteten den Markgrafendamm  zum Bahnhof Ostkreuz entlang. Ein Laster der Müllabfuhr stand am Straßenrand und die Müllmänner holten die unförmigen großen Abfallkästen, viereckig und hoch, so dass ich vollständig hineinpasste, von den Höfen. Wir hatten dagegen schon die schlankeren Tonnen und damit auch mehr Platz zum Spielen auf dem Hof unseres Lichterfelder Mietshauses. Vor dem Eingang zum Bahnhof Ostkreuz ließen wir die Straßenbahn Linie 82 passieren, die mit   lautem Kreischen sich der Kurvenform des Markgrafendammes anschmiegte. Im Halbdunkel des Fußgängertunnels über uns das dumpfe nicht enden wollende Gerumpel eines Güterzuges der über unsere Köpfe rollte. Onkel August dirigierte mich zum rechten Treppenaufgang der auf dem Bahnsteig für die Züge in Richtung Südosten hinauf führte. Während wir warteten, rauschte zischend mit gewaltiger Dampf- und Rauchfahne ein Schnellzug heran. „Radamm-Dadamm“ erklang es zwischen den Waggons. In dem hinter dem S-Bahn Gleis liegenden Schienenstrang befand sich uns vis à vis eine breite Stoßlücke. Onkel August rief in den Lärm hinein:“Der fährt nach Dresden!“ Ich war platt, so ein Onkel mit Eisenbahnerberuf weiß doch einfach alles. Die gedrungenen Waggons, gefolgt von schlankeren höheren mit der obligatorischen Hörnchenreihe auf dem Dach, weckte in mir das Verlangen auch einmal so dahin zu rollen in ferne Städte. Lange Zeit zum Träumen blieb mir nicht. Endlich kam unsere S-Bahn und wir hatten schon bei dem Betreten des Wagens mit den Fahrgästen zu kämpfen, damit ich einen Sitzplatz bekam. Viele ältere Kinder waren in dem Zug mit Rodelschlitten, einige Skier waren auch zu sehen. Onkel August erklärte: „Die fahren jetzt in die Müggelberge zum Wintersport.“ Ich war begeistert. Wir hatten zu Hause auch einen Schlitten, aber es musste immer jemand da sein, der mich zog, wenn ich auf dem Holzgestell saß. Hier gab es Berge, wo die Kinder einfach den Berg hinunter fahren. Doch schon zerfaserten die Gleise,  einige verschwanden in einer langen Halle aus roten Backsteinen, auf anderen standen lange Züge, so ähnlich wie der eben vorbei gerauschte Schnellzug. Das war der Betriebsbahnhof Rummelsburg, ein lustiger Name, aber ich konnte mich mal wieder gar nicht genug satt sehen, geschweige denn den Erklärungen von Onkel August zu folgen.

 

In Köpenick angekommen gingen wir die Bahnhofstraße hinunter. Auch hier war man mit dem Schneeräumen nicht nachgekommen. Tapfer stapfte ich durch den Schnee, es wurde wieder kalt an den Füßen. Der Schuhladen war nicht besonders groß. Nicht zu vergleichen mit den Schuhgeschäften in der Schloßstraße in Steglitz. Auch fehlten die Guckkästen wo ich mit den Schuhen an den Füßen mich in zwei Höhlungen stellen musste, derweil meine Mutter und die Verkäuferin seitlich durch grüne Fenster schauten, ob die Schuhe auch gut passten. Eine Verkäuferin brachte nach kurzer Zeit ein Paar brauner Schuhe, die mir bis über den Knöchel reichten und innen mit einem warmen Futter versehen waren. Ich probierte sie an und sie saßen so herrlich dicht und warm, selbst das Laufen schien mir um vieles leichter zu fallen. Mein „Opa“ nickte befriedigend und nachdem man nochmals von außen die Lage meiner Zehen erfühlt hatte, wurde die Schuhe gekauft. Bisher war alles nach Plan verlaufen. Doch nun ging es an das Bezahlen und und ich sah wie „Opa“ ein Bündel von völlig andersfarbigen Geldscheinen aus dem Portemonnaie zog. Spontan antwortete ich:“Was habt ihr denn hier für ein komisches Geld.“ Es herrschte Schweigen, dann wurde Onkel August unwirsch und brummte: „Na, das kennst du doch und nun sei stille“. Zaghafte Nachfragen wurden brüsk abgewehrt. Ich war ratlos. Was hatte ich falsch gemacht?

 

Doch Zeit zu überlegen hatte ich nicht. Wir verließen das Geschäft und Onkel August wurde wieder friedlich. Wir durchquerten die Bahnunterführung und bogen auf der anderen Seite in die Kleingartensiedlung ein. Die Kleingärten zogen sich längs der Bahngleise hin. Kein Vergleich zu einer typischen Laubenkolonie mit Fahne und Satzung, sondern Nutzgärten für die hart arbeitenden Eisenbahner - schnell nach Feierabend zu erreichen um dort ein wenig Grün zu genießen und vor allem Obst und Gemüse anzubauen. Als erstes überprüfte Onkel August die Funktion der Wasserpumpe, indem ich den Schwengel in die Hand nahm und kräftig pumpen musste, während er kritisch das Wasser beäugte, welches heraus plätscherte.  Dann schaute er in die Tonne. Eine dicke Eisschicht bildete einen dichten Deckel. Sie war aber nicht geplatzt, denn wenn man den Schnee weggekratzt hatte und ein wenig auf das Eis pochte, so sah man tiefer das noch nicht gefrorene Wasser. Das war ihm sehr wichtig. Dann öffneten wir die Tür zur Laube, wo wir sonst Tisch und Stühle neben einem Kocher aufbewahrten für die gemütliche Kaffeerunde. Das Fenster war voller Eisblumen. Ich konnte nicht hindurchsehen, auch das Anhauchen ließ die Blumen kaum erweichen. Onkel August fand alles ordentlich vor. Niemand hatte sich hier zu schaffen gemacht. Der Frühling könnte getrost kommen. Er schloss die Tür wieder sorgfältig ab und wir stiefelten durch den Schnee den Gang entlang, der die Gärten von der Eisenbahnböschung trennte. Ein scheuer Blick zum Wasserkran. Die Rangierlok nahm im Moment kein Wasser. Ich hörte ihr Pfeifen in der Ferne. Ich fand es spannend, wenn das Wasser von dem Kran in die Lokomotive hineinfloss. Aber dann folgte unweigerlich das Dampf ablassen, ein schrilles, gefährliches Geräusch. Ich hielt mir immer die Ohren zu und wollte mich verkriechen. Onkel August versuchte mich stets zu  beruhigen, aber das Geräusch hasste ich. Dessen ungeachtet war mein Onkel dafür verantwortlich, dass er in mir einen besonderen Hang zur Eisenbahn erzeugte.  Eine lange Zeit waren das meine liebsten Fotomotive, wobei mich nicht so sehr eine spezielle Bauart einer Lok interessierte, sondern vielmehr diese einmalige Atmosphäre zwischen  der Unerbittlichkeit des Schienenstranges und gleichzeitig über zahlreiche Weichen in eine jeweils neue Welt fahren zu können.

Doch wir Zwei verspürten jetzt eher den Drang wieder in die warme Wohnung zu gelangen. Die Schuhe waren herrlich, sie wärmten und es lief sich so mühelos in ihnen. Die S-Bahn war gerade vor unserer Nase abgefahren und es blieb noch ein wenig Zeit. Da ging Onkel August mit mir zu der Imbissbude auf dem Bahnsteig und spendierte mir eine Bockwurst mit Mostrich. Sie war wunderbar saftig und der Mostrich piekte in der Nase. Ein kleiner Junge ist schnell völlig zufrieden zu stellen.  Es muss wohl am frühen Nachmittag gewesen sein. Langsam aber verringerte sich die Helligkeit. Wieder war der Zug brechend voll. Menschen mit Aktentaschen, Rucksäcken, neben  Rodelschlitten und Skier mussten umgangen werden. Kinder saßen auf den Holzbänken, sie hatten die Schuhe ausgezogen, man sah ihre nassen Füße, die sie jeweils gegenüber unter der hölzernen Sitzbank auf die elektrischen Heizkörper ausstreckten. So wärmten sie sich auf und gleichzeitig erzählten sie von ihren Erlebnissen im Schnee der Müggelberge. Ein bisschen neidisch war ich schon, denn ich hätte gern mit ihnen im Schnee herumgetobt, aber ich empfand auch Mitleid mit den Kindern, denn ich hatte es warm in meinen neuen Schuhen, während die Anderen versuchten durch die lauwarmen Heizkörper ihre Füße aufzuwärmen und die Strümpfe zu trocknen.  Die Phrase von den armen Brüdern und Schwestern in der Zone kannte ich noch nicht. Es gab doch keinen Unterschied zwischen Köpenick und Lichterfelde-West. Man fuhr einfach mit der S-Bahn hin und her und es war Zufall wo jemand gerade wohnte. Mir gefiel es bei Tante Ottilie und Onkel August sehr gut, dagegen fand ich das Mietshaus im Westen von Berlin, in Wilmersdorf, wo eine der schrecklichen Freundinnen meiner Großmutter, die Frau Lämpel wohnte, scheußlich. Man konnte nichts im Treppenhaus sehen. Es lag beständig im Dunkel. An einer Stufe war in die Treppe eine winzige Leuchte eingebaut, was mich aber nicht davon abhielt genau dort die restlichen Stufen in die Düsternis herunter zu fallen. Schmerzhaft und mit Gezeter meiner Großmutter und der Frau Lämpel verbunden. Dass ihr doofer Dackel mit Namen „Uwe“ nicht auch noch zu kläffen anfing, verdanke ich wohl einer glücklichen Schicksalsfügung.  

 

Es sollten noch etliche Jahre ins Land gehen, bis ich dafür eine Erklärung fand. Äußerte ich die außerhalb meiner Familie konnte ich sicher sein, dass man sich empörte, mich als unbelehrbar und verbohrt bezeichnete. Doch in weiteren Erzählungen werden die Widersprüche schon klarer werden. Das darf ich versprechen.

 

Am frühen Abend verließen wir das Haus am Markgrafendamm und fuhren heimwärts. Jetzt war ich nicht nur müde, sondern auch nicht mehr so aufmerksam, denn es gab in der Dunkelheit auch nicht mehr viel zu sehen. Lediglich ein starke Geschäftigkeit belebte die Bahnhöfe. Ich Schönberg drängten Menschenmassen zu der Rolltreppe, aber Großmutter bestand darauf mich an der Hand festzuhalten und wir schritten die Treppen abwärts zum unteren Bahnsteig.

 

Jetzt waren die Häuserreihen erleuchtet und man konnte in die Räume schauen. Da gab es eine Küche, wo eine Frau am Herd stand, woanders ein Wohnraum, der mich durch eine pompöse Lampenschale beeindruckte. Sekundenbruchteile fremder Leben, flüchtige Eindrücke. Über dunkle, einsame Straßen ging es hinweg, dann die Brücke über die Albrechtstraße mit ihren Obus-Leitungen, die mich stets faszinierten und ich noch Jahre benötigen würde um diese Linien zu erkunden. Hinter dem Botanischen Garten  erreichten wir wieder Lichterfelde West. Als wir an die Frischluft kamen, war es deutlich kälter geworden. Der Schnee knirschte jetzt unter unseren Füßen, Pfützen mit einer Eisschicht bedeckt:“Pass auf, wo du hintrittst!“ Die Wechselstube war noch geöffnet. Die Tür von der Kneipe „die Bratpfanne“ stand halboffen. Ein Gejohle und Klirren von Gläsern war zu vernehmen. Ein verräucherter Wrasen bahnte sich seinen Weg ins Freie. Deutlich roch ich auch das Bier. Großmutter zerrte mich schnell fort.  Je weiter wir uns vom Bahnhof entfernten, desto stiller wurden die Straßen. Der Laden, wo die Tochter von Tante Ottilie arbeitete, war schon geschlossen. Er hieß „Das gute Leihbuch“, eine private Bücherei mit Lotterieannahme. Nicht nur ältere Offizierswitwen schätzten die Bücherauswahl, wo jedes Buch sorgfältig einen neuen Packpapierumschlag erhielt, bevor es der Kunde in die Hände nahm, sondern auch ich schmökerte mich als Schuljunge durch die Serien von Enid Blyton hindurch. Etliche Groschen an Leihgebühr landeten dort in der Kasse der gestrengen Frau Nitschke mit ihrer Turmfrisur und dem unerschütterlichen Glauben an die BRD mit einem Konrad Adenauer, der mich weder damals noch später interessierte, obwohl er vielleicht den ein oder anderen Krimi als Lesestoff dort hätte finden können.

 

Wir hatten schon den kleinen Platz passiert, wo der Kadettenweg kreuzte, der vom amerikanischen Bahnhof direkt zur ehemaligen Kadettenanstalt Lichterfelde führte. Eine meiner Großtanten bedauerte als Mädchen die jungen Kadetten, wenn sie müde dort noch auf dieser Straße zum Marschieren angetrieben wurden, das verwuchs sich bei ihr aber schnell, denn aus der Kadettenanstalt wurde die Kaserne der Leibstandarte Adolf Hitler und nach der Naziherrlichkeit zogen die amerikanischen Soldaten dort ein, die nicht mehr marschierten, sondern auf Lastwagen saßen und dieses Gelände erhielt den Namen „Andrew Barracks“. Doch dazu später und ausführlicher, denn wir gelangten zum  Johanneskirchplatz. Nun waren es noch rund einhundert Meter bis zu unserem Haus. Die Sieben-Uhr-Glocke läutete wie jeden Abend. Wir kamen immer um diese Zeit heim. Meine neuen Schuhe waren ein echtes Schnäppchen, denn meine Großmutter hatte Dank des Umtausches in der Wechselstube von D-Mark in Mark der DDR nur ein Viertel des Verkaufspreises bezahlt, während die fröhlichen Kinder, die sich ihre nassen Füße an den Heizkörpern wärmten, dafür das Vierfache hätten Hinblättern müssen, wenn es noch welche in dem Geschäft zu kaufen gegeben hätte. Denn ein Paar gehörte jetzt mir, der ich mit einem Mal in einer anderen Welt, geschieden durch eine noch unsichtbare Grenze, wohnte.

 

 

 

Gendringen, 10.02.20

 

4. Fassung                  

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